Hamburg. Nach 16 Jahren als Erste Solistin verabschiedet Hélène Bouchet sich. Der Grund dafür und wie es jetzt für sie weitergeht.

Es ist für die Hamburgerinnen und Hamburger ein schmerzlicher Abschied. Hélène Bouchet, seit 2005 Erste Solistin beim Hamburg Ballett John Neumeier, verlässt die Compagnie Ende Dezember und beendet ihre Karriere. Ein Gespräch mit der 1980 geborenen Französin über Abschied und Aufbruch und eine Begegnung mit einem außergewöhnlich in sich ruhenden Ballett-Star.

Warum hören Sie auf? Hat die Pandemie Ihre Entscheidung befördert?

Hélène Bouchet: Die Pandemie war schon ein Grund. Ich habe 26 Jahre professionell getanzt. Der Körper beginnt zu sagen, sei vorsichtig, ich bin nicht da. Oder er lässt mich wissen, halt, ich kann nicht so weit gehen. Da kommt man ins Nachdenken. Ich war in all den Jahren selten verletzt. Gut, ich tanze auch mal mit Schmerzen, das ist in Ordnung, aber ich möchte meine Karriere nicht mit einer Verletzung beenden. Die Pandemie brachte alles zum Stillstand. Die junge Generation hat eineinhalb Jahres ihres Lebens verloren. Ich dachte, ich höre sowieso irgendwann auf, warum nicht jetzt, damit die Jungen eine Chance haben? Manche tanzen ja nur zehn Jahre. Eineinhalb verlorene Jahre sind für eine Tanzkarriere eine lange Zeit,

Ihr Lebenspartner Carsten Jung ist bereits vor anderthalb Jahren aus dem Hamburg Ballett ausgestiegen. Hat das eine Rolle gespielt? Hat er als Partner in der Compagnie gefehlt? Und wie geht es ihm heute?

Hélène Bouchet: Carsten fühlte, dass sein Körper aufgab. Er wollte nicht erst gehen, wenn sein Körper am Ende wäre. Ich möchte auch auf dem Höhepunkt gehen. Mit dem guten Gefühl, wie ich es gewohnt bin. Wir sprachen natürlich viel darüber. Und ich sagte ihm: Du musst tun, was dein Herz dir sagt. Vor sechs Monaten bekam er eine tolle Möglichkeit als Ballettpädagoge an der Académie Princesse Grace in Monaco. Er hatte ein wenig Sorge, ob das gelingt, weil er nie außerhalb von Deutschland gelebt hat, aber ich sagte: Du wirst das schaffen. Gleichzeitig habe ich überlegt, wie es für mich weitergeht. Ich denke, ich habe nicht das Recht in einer Situation zu bleiben, nur weil es bequem ist. Ich möchte, dass auch eine junge Generation eine Chance erhält. Es ist also der richtige Zeitpunkt für eine große Veränderung.

Sie wollen in Südfrankreich unter anderem Kinderkleidung designen. Woher kam diese Idee?

Hélène Bouchet: Ich habe schon vor Jahren begonnen, aus Spaß Kinderkleidung zu entwerfen. Dann habe ich es richtig gelernt. Ich dachte, es wäre ein schöne Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun, wenn ich nicht mehr tanze. Natürlich möchte ich trotzdem in der Ballett-Welt bleiben und auch unterrichten. In Frankreich kann man als langjährige Tänzerin ein Diplom erlangen. Ich habe bereits angefangen zu unterrichten und genieße es sehr.

Freuen Sie sich darauf, in die Nähe Ihrer Geburtsstadt Cannes zu ziehen?

Hélène Bouchet: Wir haben schon länger daran gedacht, irgendwann häufiger dort zu sein. Aber ich habe meine Heimatstadt mit zwölf Jahren verlassen und weiß nicht, wie es sein wird, nah bei der Familie und den Freunden zu sein, weil ich das kaum kenne. Aber natürlich freue ich mich. Besonders auf das gute Wetter!

Ist es noch immer schwer auf einer Ballett-Bühne älter zu werden? Es hat sich ja zum Glück einiges gewandelt ...

Hélène Bouchet: Man hat mehr Erfahrung im Leben und auf der Bühne. Es wird nicht einfacher, man muss stärker mit dem Intellekt arbeiten, aber es gibt auch mehr Freiheit. Ich weiß, was ich erreichen kann und was nicht. Ich weiß einfach mehr. Manche tanzen, bis sie 45 Jahre alt sind. Es kommt immer darauf an, wie man sich fühlt. Ich hatte immer Freude beim Tanzen und ich möchte mit Freude gehen.

Sie haben ja alle großen Ballett-Rollen getanzt, von Julia bis Titania. Welche war Ihre Lieblingsrolle und warum?

Hélène Bouchet: Jede Rolle war wichtig. Natürlich war es sehr besonders, mit John Neumeier im Ballettsaal zu sein und zu kreieren. Ich liebe aber nicht eine Rolle mehr als eine andere. Die Kameliendame, Blanche Dubois, die kleine Meerjungfrau – sie sind alle verschieden, berührend, gebrochen, liebend. Ich kann nicht sagen, dass ich eine Lieblingsrolle habe.

Was werden Sie am meisten vermissen - und was vielleicht auch gar nicht?

Hélène Bouchet: Die Zeit der Arbeit, die Proben, die Zeit mit John, die tolle Gemeinschaft werde ich auf jeden Fall vermissen. Um mir klar darüber zu sein, was mir nicht fehlt, muss ich erst draußen sein. Ich höre auf, aber ich verlasse diesen Ort nicht für immer. Ich werde sehen, wie sich die Kolleginnen und Kollegen entwickeln. Es ist meine Heimat. Ich werde das Grün in Hamburg vermissen, die Weite. Es fühlte sich nie wie eine Großstadt an. Ich werde Deutschland vermissen. Hier weiß ich, wie alles funktioniert. In Frankreich ist alles erst einmal neu.

Wie hat John Neumeier die Nachricht aufgenommen?

Hélène Bouchet: Ich glaube, er hat verstanden, warum ich aufhören will. Ein Jahr zuvor hatten wir ein Gespräch, und er fragte mich, wie lange ich tanzen will. Ich sagte ihm damals, dass ich es nicht genau weiß, aber dass es nicht mehr lange sein wird. Jetzt war er schon überrascht. Ich glaube, er brauchte Zeit, es zu verarbeiten, aber er hat es verstanden.

Was raten Sie Ihrer Nachfolgerin Ida Praetorius und überhaupt jungen Tänzerinnen und Tänzern?

Hélène Bouchet: Genieße den Tanz bis zum Äußersten, glaube an das, was du tust, liebe es, investiere dort hinein, sieh dich um, lerne von anderen Menschen. Manchmal lernt man mehr vom Zuschauen als vom selbst Tanzen. Respektiere, was du tust.

Wie sehen Sie die Zukunft des Hamburg Balletts?

Hélène Bouchet: Jede Tänzerin lernt von der Generation vorher. Man lernt, weil man mit ihr tanzt, sie sieht, Rollen übernimmt. Ich hoffe, dass die nächste Generation das Gleiche tut, weil der Tanz auf diese Weise weitergeht. Und sie soll experimentieren. Soviel wie möglich.

Hélène Bouchet ist noch zu sehen u. a. in John Neumeiers „Die Glasmenagerie“, 10.11. und 20.11., jew. 19.30, Hamburgische Staatsoper, Dammtorstraße 28, 2G-Vorstellung, Karten unter T. 35 68 68; www.hamburgballett.de