Hamburg. Ihre Stimme sei „wie ein Laser“, schrieb die „New York Times“ über Elīna Garanča. Ein Gespräch über Karriere und Hindernisse.

Die lettische Mezzosopranistin Elīna Garanča nimmt sich Zeit, um über ihre Karriere zu sprechen. Sie war jahrelang auf „Carmen“ abonniert. Was sehr schön war, klar, ihr aber irgendwann nicht mehr genügte. Vor einigen Monaten dann ihre erste Kundry in Wagners „Parsifal“ in Wien. Und es gibt offenbar kein Thema, zu dem sie nicht sofort eine klare Meinung parat hat.

Hamburger Abendblatt: Welche Stimmlage hätten Sie gern, wenn es nicht Mezzosopran geworden wäre?

Elina Garanca: Bassbariton. Wegen Wagners Wotan und solcher Rollen wahrscheinlich…Nicht nur, auch Boris Godunov, Scarpia in der „Tosca“…

Haben Sie beruflich grundsätzlich jemals etwas bereut – eine Stelle im Leben, an der Sie lieber nach rechts statt nach links hätten abbiegen sollen?

Garanca: Nein, Gott sei Dank nicht. Ich war sehr jung in Meiningen, dort habe ich meine Grenzen abgetastet und habe sehr früh, im 23. Lebensjahr, festgestellt, um was es geht. Wie stark oder wie ehrgeizig man in dem Beruf sein darf - oder auch muss. Danach war ich äußerst vorsichtig. Ich frage unglaublich viel nach und stimme nie etwas zu, das ich nicht vorher ausprobiert habe und wovon ich mir sicher bin, dass ich es auch schaffe. Deswegen habe ich vieles sehr früh abgelehnt und musste nie aus einer Produktion aussteigen. Mit dem Studium der Partien fange ich anderthalb bis zwei Jahre vorher an, bis ich auf die Bühne gehe, habe ich die Arien mindestens im Konzert schon gesungen.

Stichwort Ehrgeiz: Ihr Vater war Chordirigent, Ihre Mutter Gesangspädagogin, Sie sind im sowjetischen und postsowjetischen Lettland aufgewachsen. Klingt alles nach sehr harter Schule.

Garanca: Es war auch so, es war aber auch ganz normaler Alltag. Wir mussten sehr früh selbstständig werden. Es gab Zeiten, in denen wir nur Kartoffeln hatten, kein Fleisch, die Schuhe mussten zwei Jahre halten. Und es hat uns abgehärtet fürs Leben, wir machen – pardon my french – nicht einfach jeden Scheiß mit. Wir werden auch nicht so einfach aus der Bahn geworfen und jammern viel weniger über wirklich unwichtige Dinge.

Wie viel Selbst-Drill braucht es, um diese Art von Karriere nicht nur zu machen, sondern auch machen zu wollen?

Garanca: Es geht um die eigene Moral. Warum singt man eigentlich? Wenn es darum geht, mit dem Publikum durch die Stimme kommunizieren zu wollen und zu müssen, ist der schwere Alltag gar nicht so schwer. Die Musik zündet uns unglaublich an. Und den Beruf per se – zu üben, zu proben, zu singen - liebe ich immer noch. Der Alltag wird mir schwer gemacht durch alles, was dazugekommen ist. Instagram, Facebook, socializing, Selfies posten… ich hasse Selfies! Ich hasse sie. Diesen Teil des Berufs mag ich nicht. Aber sobald ich auf die Bühne gehe, singe, Musik höre, dieser Geruch im Theater – dann sage ich mir: Nein, ich will nichts anderes.

Sie arbeiten sehr oft mit Ihrem Mann, dem britischen Dirigenten Mark Chichon, zusammen. Das ist verständlich, einerseits, aber was ist mit dem Sprichwort „Absence makes the heart grow fonder“?

Garanca: Wir haben festgestellt, dass wir Opern-Inszenierungen nicht mehr zusammen machen mögen. Dann sind wir acht Wochen täglich zusammen. Ich mag vielleicht den Tenor, er aber nicht. Er mag den Sopran, ich aber nicht, dann streiten wir womöglich. Aber bei den Konzerten funktionieren wir miteinander am besten. Er bereitet das Orchester für mich vor, ich weiß ganz genau, wann er mein Hinschauen braucht. Das macht das Leben viel einfacher. Wir haben schon so viel ausprobiert, von Barock bis Wagner. Auch wenn im Privaten wegen Alltagskram oder Kindererziehung mal etwas hakt, können wir das auf der Bühne sofort ausschalten.

Sie haben sich mal als „nervigen Chihuahua“ bezeichnet und ihn als „ruhige Bulldogge“. Womit gehen Sie anderen am meisten auf die Nerven?

Garanca: Ich hasse Wiederholungen! Wenn mir jemand zweimal etwas sagt, was beim ersten Mal klar ist. Ich bin sehr praktisch und sehr anpassungsfähig – und er muss genau dieses eine Kissen oder eine bestimmte Tasse haben. Ich explodiere eher schnell, danach ist der Sturm aber auch wieder vorbei.

Ist man Sopran, hat man etliche Rollen zur Auswahl, auf die man sich freuen und auf die man hin reifen kann. Als Mezzo wird man ständig mit der Frage genervt: Was ist eigentlich mit der Carmen? Sie haben das hinter sich, aber war das eine ganz große Herausforderung oder ist das nur eine Rolle wie viele andere?

Garanca: Für mich war das einfach eine neue Etappe. Anfang habe ich viele Hosenrollen gesungen, den Oktavian, viele junge Männer, Carmen kam damals gar nicht in Frage. Aber langsam wurde mir fad. Und irgendwann hat sich jemand getraut, sie mir anzubieten. Danach habe ich sie jahrelang in fast jedem Theater mit jedem möglichen Tenor gesungen. Bis ich sie dann satt hatte.

Und dann?

Garanca: Dann kam die Frage, etwas Dramatisches aufzunehmen. Es entwickelte sich immer weiter. Und jetzt, mit fast 45, kann ich in den nächsten zehn Jahren wirklich Gas geben und alles noch singen, was übriggeblieben ist, ohne Angst, mir etwas anzutun. Neulich die Kundry in Wien, das war eine langsame Vorbereitung, die Jahre vorher begonnen hat. Bald ist das Opernrepertoire, das ich mir gewünscht habe, aus, dann kann ich langsam aufhören.

Kundry in Wagners „Parsifal“, war die wirklich die große Hürde oder am Ende auch nur halb so wild?

Garanca: Als junge Sängerin hatte ich nie gedacht, dass ich jemals Wagner singen würde, es hat mich auch nicht interessiert. So ganz mein Temperament ist es auch nicht. Aber alles, was ich davor gesungen habe, hat mir bei Wagner ungeheuer viel gebracht. Nach der Kundry kamen weitere Angebote: Fricka in der „Walküre“, die Venus im „Tannhäuser“... Das alles tut der Stimme sehr gut, doch in meinem Repertoire brauche ich auch Italienisches.

Sähe ich meine ersten Artikel an, bei dem einen oder anderen würde mir anders werden. Wie geht es Ihnen mit früheren Engagements oder gab es eine konkrete Vorstellung, ab der Sie gefühlt haben – ich bin richtig in diesem Job?

Garanca: Meine eigene Kraft ist mir erst seit einigen Jahren bewusst: Wenn ich auf die Bühne gehe, entsteht etwas um mich herum, eine gewisse Aufmerksamkeit. Was das ist, kann ich immer noch nicht sagen. Und wenn die Leute sagen, dass meine Stimme dann überall ist, freut mich das wahnsinnig.

Hat sich mit jedem Abschnitt auf der Karriereleiter die Angst vor dem Absturz gesteigert: Um Himmels willen, Salzburger Festspiele, bin ich denn verrückt?

Garanca: So geht’s mir fast jedes Mal, kurz bevor ich auf die Bühne gehe. Muss ich mir das wirklich antun? Aber dann der erste Ton, die erste Phrase, und dann gewinnt man die Freude, mit Kollegen, die man gern hat – wir sind dann als Universum miteinander verbunden. Wenn dieser Moment des zusammengefügten Zaubers da ist, vergisst man alles andere. Wir sind in einer glücklichen Parallelwelt, die ganz besonders ist.

Singen Sie für alle, für sich oder haben Sie den einen Menschen in Reihe 8, Platz 5 im Kopf und singen nur für den?

Garanca: Es verändert sich. Wenn ich zum ersten und einzigen Mal auftrete, singe ich für jeden einzelnen. Ich will die Leute umarmen, wie ein Mutterhuhn, das die Flügel öffnet und darunter sind alle Küken. So möchte ich sie bei mir haben. Wenn ich aber in einem Theater die siebente Aufführung singe, wird man natürlich müde und hätte gern eine Inspiration: Da sitzt jemand, den man kennt, für diese Person singt man zuerst, wird aufgeladen und singt am Ende für alle. Die Musik nimmt dich mit und alles andere ist unwichtig.

Ist Ihnen schon passiert, dass Sie sich selbst zu Tränen gerührt haben?

Garanca: Tränen kann ich mir nicht leisten, mir schlägt es sofort auf die Stimme, ich kann einfach nicht weitersingen. Aber ich bewundere mich grundsätzlich nicht auf der Bühne.

Über Sie wird viel geschrieben, das meiste davon ist gut. Lesen Sie das alles, und, wichtiger: Glauben Sie das alles?

Garanca: Es ist oft vorgekommen, dass meine Erwartungen größer waren als die des Publikums. Und manchmal frage ich mich, ob wir und der Journalist in der gleichen Vorstellung waren. Anna Netrebko hat es wunderbar formuliert und ich versuche, das auch in meinem Alltag umzusetzen: Schreibt man schön über mich, freut es mich und ist mir egal. Wenn sie schlecht schreiben, freut es mich nicht und ist mir trotzdem egal.

Haben Sie inzwischen eine konkrete Vorstellung davon, was die Corona-Zeit mit Ihrer Karriere gemacht hat?

Garanca: Ich habe überhaupt nichts verpasst, die Zeit war für mich äußerst willkommen, auch wenn ich mir ab und zu viele Sorgen gemacht habe. Es war unglaublich wichtig für mich, einmal ausgebremst zu werden. Nicht ich, die Welt hat mir eine Pause verordnet. Ich habe die Zeit für mein technisches Können genutzt, habe sehr viel reflektiert, anerkannt, wer ich bin. Wer bin ich als Künstlerin? Was für ein Mensch bin ich durch diesen wahnsinnigen Stress geworden? Ich habe immer gesagt: Wenn ich Amneris in „Aida“ gesungen habe, kann ich aufhören. Jetzt kam die Kundry dazu, Amneris ist zweimal verschoben worden. Ich glaube, das Schicksal will mir etwas sagen (lacht).

Wenn Sie bei nach einer Premiere auf die Bühne gehen und es gibt Buh-Rufe – ich würde vor leid im Boden versinken. Wie geht man damit um?

Garanca: Es ist sehr unangenehm. Es ist so, als ob man zu einer Feier eingeladen ist, der arme Mensch hat tagelang jedes Detail vorbereitet, und dann kommt jemand und spuckt einem in die Seele. Wir Sänger haben es aber auch nicht immer leicht. Wir sind psychologisch und emotional manipulierbar. Oft hört man eine Regie-Einführung und sagt sich, wie daneben das ist. Aber danach wird uns fünf Wochen lang alles eingeredet und man fängt an, es zu glauben. Irgendwann ist man so überzeugt, dass alles stimmt. Dann geht man nach der Premiere raus und ist wegen der Buh-Rufe in einer Schockstarre. Eine Art Stockholm-Syndrom.

Haben Sie sich schon einmal gesagt: Was der Regisseur da sagt, das kann ich auch, und weiß es im Zweifelsfall besser?

Garanca: Nicht besser. Vielleicht anders. Ich bin eine Schachfigur in einem großen Spiel. Natürlich kann ich meinen Charakter beteiligen und das tue ich oft auch. Aber wenn man, nur als Beispiel, schon sieben verschiedene „Carmen“-Produktionen gesungen hat, freut man sich auch, mal etwas anderes auszuprobieren. Eine blonde Carmen mit blauen Augen war unglaublich lang nicht vorstellbar. Viele Klischees in der Oper finde ich sehr langweilig! Aber es muss immer einen Sinn ergeben. Es geht um die Beziehungen, um die Fantasie.

Eigentlich wollte ich Sie ja gefragt haben, wie sehr Sie dieses Klischee von der coolen, kühlen Blondine nervt. Das haben Sie eben wohl beantwortet.

Garanca: Es hat mich jahrelang genervt, bis zum Gehtnichtmehr. Und ich bin stolz, dass ich mich selbst in all den Jahren nicht verloren habe.

Und inzwischen ist es also egal?

Garanca: Wenn die Leute nach 20 Jahren keine andere Bezeichnung für mich gefunden haben, frage ich mich, wo sie stecken geblieben sind.

Wollen wir jetzt zum Stichwort #metoo kommen?

Garanca: Ich bin gegen Gewalt, gegen das Ausnützen von Machtpositionen, gegen Erniedrigung. Aber ich finde, dass der heutige Feminismus in eine Sackgasse läuft. Es ist äußerst langweilig und uninspirierend, dass Schauspieler und Sänger alles, was mit einem Knistern, einem schönen Flirt zu tun hat, begrenzt werden. Dass man in den USA einen Bewegungscoach für Umarmungen hat, finde ich so was von bescheuert. Ich habe zwei Töchter und für sie ist ihre Zukunft sehr fraglich. Sind wir nun alle emotionslose Roboter? Ich freue mich über Komplimente von Kollegen! Warum auch nicht? Wie man etwas sagt, ist inzwischen wichtiger als die eigentliche Botschaft, und das finde ich nicht korrekt.

Es lag aber schon sehr viel im Argen in Ihrer Branche und tut es auch jetzt noch, da sind wir uns einig?

Garanca: Ja, sicher. Aber dann frage ich mich: Wo war der Intendant, wo ist der Politiker, der ihn engagiert hat? Natürlich hatte auch ich sehr viele komische Situationen. Und ich habe immer gesagt: Bis hierhin und nicht weiter. Ich werde nie mein Leben als Opfer leben wollen. Ich bin viel stärker, als Mensch, als Künstlerin, als Mutter, als Frau, als Individuum, als jemand, die durch Unschönes viel stärker geworden ist.

Themenwechsel, harter Schnitt: Kurz nachdem Ihr Kollege Jonas Kaufmann einen bekannt problematischen Abend in der Elbphilharmonie hatte, haben Sie dort ein Arien-Konzert gesungen – und dabei, um in alle Richtungen zu singen, eine Kaufmann-Gedächtnis-Drehung gedreht. War das Zufall, Ihre Idee oder hat Ihnen jemand dazu geraten?

Garanca: Ich hatte gehört, dass es nicht so gut gelaufen war. Aber es war meine Intuition, auch den Leuten hinter meinem Rücken wollte ich etwas von meiner Stimme zeigen. Und ich hatte keine Probleme! Auf die Akustik achte ich grundsätzlich nicht, weil ich dazu ausgebildet wurde, in jeder Akustik hörbar zu sein.

Fällt es Ihnen schwer, die Bühne nach einem Auftritt zu verlassen? Ist ja toll da – niemand stört einen, es gibt Applaus… der schönste Platz der Welt.

Garanca: Ich bin Mutter, und nach der Geburt meines ersten Kindes habe ich sehr schnell gelernt, mich sofort abzuschalten. Schnell zu schlafen nach dem Konzert. Da kann man einfach nicht noch stundenlang schweben.

Richtig professionell. Anschalten, abschalten.

Garanca: Jein. Doch. Es gibt natürlich Ausnahmen. Etwas so Großes wie den „Parsifal“ in Wien. Aber da ich hatte die Kinder auch nicht bei mir. Und habe am nächsten Morgen den Preis bezahlt.

CD: „Schumann / Brahms: Lieder“ Elīna Garanča, Malcolm Martineau (Klavier) (DG, ca. 15 Euro)