Hamburg. Das 13. Hamburger Theaterfestival endet mit dem Grass-Gastspiel des Berliner Ensembles. Alle fünf Stücke kamen aus der Hauptstadt.
„Die Hauptrolle dieses Stückes ist falsch besetzt!“, ruft Nico Holonics affektiert aus. „Ich verzweifle am Theater!“ Was an dieser Stelle natürlich reine Koketterie ist: Oliver Reese hat seine Inszenierung von Günter Grass’ „Die Blechtrommel“ als Einpersonenstück voll auf Holonics ausgerichtet und mit dieser Entscheidung überhaupt nichts falsch besetzt. Mehr noch: Das Publikum erlebt beim Hamburger Theaterfestival im St. Pauli Theater einen darstellerischen Parforceritt – einen Schauspieler, der über sich selbst hinauswächst.
Reese ist als Regisseur weniger Virtuose als versierter Handwerker, entsprechend ist auch „Die Blechtrommel“ nicht unbedingt eine Sternstunde des Regietheaters. Verhältnismäßig vorlagengetreu werden die ersten zwei Drittel von Grass’ Roman nacherzählt: wie Oskar Matzerath Anfang des 20. Jahrhunderts in Danzig geboren wird, mit drei Jahren das Wachstum verweigert, den aufziehenden Faschismus als unbeteiligter Beobachter erlebt und das Grauen der Geschichte mit schepperndem Blechgetrommel rhythmisiert.
„Die Blechtrommel“: Solo-Performance zum Abschluss des Theaterfestivals
1945, mit dem Einmarsch der Roten Armee, endet die Inszenierung, obwohl Grass noch weitererzählt und Matzerath zum Chronisten der jungen Bundesrepublik werden lässt – das kann man als Eingriff des Regisseurs in den Roman lesen, aber tatsächlich ließ schon 1979 Volker Schlöndorff seine Verfilmung hier enden. Wirklich radikal ist die Regiehandschrift also nicht, ebenso wenig wie die Entscheidung, die gesamte Handlung von Holonics erzählen zu lassen.
Jedoch geht dieser umso radikaler vor. Er brüllt und quengelt, er schleimt und spuckt, immer wieder überspielt er die Rampe. „Na, wie sitzt es sich da vorne, in der ersten Reihe?“, fragt und grinst er ins Publikum, ölig, arrogant, aggressiv – kein sympathischer Matzerath, sondern ein Sprücheklopfer, der weiß, dass er die nächsten 110 Minuten aufdrehen muss, um zwar nicht die Herzen aber die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu gewinnen.
Kompaktes Hamburger Theaterfestival: Nur fünf Produktionen
Dass da kein Kind auf der Bühne steht, sondern ein 37-Jähriger, tritt angesichts der Qualität dieser Performance in den Hintergrund, und man kann nicht anders als den Hut zu ziehen, vor dem, was Holonics da macht. „Die Blechtrommel“ fügt Grass’ Roman keinerlei neue Perspektive hinzu, ist aber ein Schauspielerfest, dem man bewundernd beiwohnt.
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Und passt damit perfekt als Abschluss des diesjährigen Hamburger Theaterfestivals. Pandemiebedingt war der Gastspiel-Reigen in seinem 13. Jahr auf fünf Produktionen innerhalb einer Woche verkürzt worden, das sorgte für ein extrem verdichtetes Programm, an dem sich vielleicht gerade wegen seines im Vergleich zu den Vorjahren geringeren Umfangs gut ablesen lässt, was dieses Festival eigentlich sein kann: die Präsentation großer Schauspiel-Persönlichkeiten.
Die Regie bleibt im Schatten
Außer Holonics waren das Sophie Rois, Constanze Becker, Fritzi Haberlandt, Fabian Hinrichs, Dagmar Manzel, Ulrich Matthes, Caroline Peters, Hans Löw, Peter Jordan und Maren Eggert. Und irgendwie kann man Hajo Schülers ausdrucksstarke Masken für die Gruppe Familie Flöz ebenfalls zu diesen Bühnenpersönlichkeiten zählen. Worum es dieses Jahr nicht ging: um starke Regiepositionen.
Clemens Maria Schönborn nutzte die Marlen-Haushofer-Dramatisierung „Sophie Rois fährt gegen die Wand im Deutschen Theater“ vor allem als Vehikel, um die Star-Schauspielerin Rois glänzen zu lassen, und Jan Bosses Festival-Eigenproduktion „Die glorreichen Sieben“ war eine Abfolge von sechs Solonummern –Tobias Moretti musste krankheitsbedingt kurzfristig absagen.
Hamburger Theaterfestival nur mit Berliner Inszenierungen
Ein Anspruch des Hamburger Theaterfestivals ist auch, die wichtigsten Inszenierungen des deutschsprachigen Raums in der Hansestadt zu zeigen. Angesichts der Corona-Lage ein schwieriges Unterfangen, aber dass ausschließlich Berliner Arbeiten zu sehen waren, irritierte dann doch. Sophie Rois’ Haushofer-Performance – eine Produktion des Deutschen Theaters.
„Die Blechtrommel“ – 2015 fürs Schauspiel Frankfurt entstanden und dann mit Intendant Reese und Darsteller Holonics ans Berliner Ensemble umgezogen. Die Eigenproduktion „Die glorreichen Sieben“ – vom in Berlin lebenden Regisseur Bosse ausschließlich mit Berliner Schauspielern inszeniert. Familie Flöz’ Maskentheater „Feste“ – eine Koproduktion mit Theaterhaus Stuttgart, Theater Duisburg und Lessing Theater Wolfenbüttel, allerdings von einer in Berlin beheimateten Gruppe.
Nach Corona: Gehen wieder mehr Menschen ins Theater?
Selbst die Leseprobe „Totentanz“ wurde von John von Düffel mit Berliner Schauspielern eingerichtet; einzig Hans Löw lebt in Hamburg. Tolle Theatererlebnisse, zweifellos. Aber gab es gar nichts in Wien, München oder Bochum, nichts in Hannover oder Zürich, das eine Einladung gelohnt hätte?
Festival-Intendant Nikolaus Besch jedenfalls ist zufrieden. Das Publikum habe die Gastspiele gut angenommen, sagt er am Rande der „Blechtrommel“-Aufführung, einzig bei Sophie Rois im Schauspielhaus seien einzelne Plätze frei geblieben. „Uns macht das Hoffnung, dass die Leute nach der Pandemie wiederkommen!“ Womöglich schon zur 14. Festivalausgabe im Frühjahr 2022.