Hamburg. Jacques Audiards Komödie könnte ein Kulthit werden: „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ fängt das Lebensgefühl einer Generation ein.

Die Kamerafahrt gleich am Anfang glänzt mit dem größten Fokus, den dieser Film hat. Die 100 Meter hohen Häuser in Les Olympiades, eine Architektur für die Massen, gebaut für die nomadischen Monaden der Großstadt. „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ spielt im 13. Arrondissement und ist leicht als Ode an die Urbanität zu identifizieren. Als Ort der Anonymität und des Flüchtigen, an dem Liebe etwas ist, das sich ergibt und vergeht, schneller als anderswo.

Ein ganz normales pariserisches Unglück, aus dem cineastisch mit dem richtigen Dreh noch stets etwas herauszuholen war. Zum Abschluss des 29. Filmfests Hamburg trat Meisterregisseur Jacques Audiard („Ein Prophet“) diesen Beweis an. Sein neuer Film „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ (im Original „Les Olympiades“) ist ein Werk über die Beziehungen junger Leute und hat durchaus das Zeug, bei dieser Zielgruppe ein kleiner Kulthit zu werden.

Liebe und Sex im Abschlussstreifen des Hamburger Filmfests

In Deutschland läuft der Film Anfang Februar 2022 an. Weltpremiere feierte er zuletzt in Cannes, wo er freundlich aufgenommen wurde. Was insofern nicht wundert, als Jacques Audiard mit „Les Olympiades“ eine für ihn völlig ungewohnte Erzählung in Szene gesetzt hat. Er hat also durchaus etwas gewagt, auch angesichts eines Ensembles aus lauter Unbekannten. Seine Heldinnen und Helden erleben das Leichteste und das Schwierigste: sich Paaren, sich Entpaaren und irgendwas dazwischen.

Ein Lehrer und literaturwissenschaftlicher Doktorand (kolossal: Makita Samba), der die Frauen liebt, eine abgebrochene Politologin (ebenso kolossal: Lucie Zhang), die im Callcenter und im Restaurant jobbt und die Männer liebt; eine Immobilienmaklerin vom Land (Noémie Merlant), die an der Sorbonne wieder Jura studiert, ehe sie dem Cybermobbing ihrer jüngeren Kommilitoninnen zum Opfer fällt; eine Sexarbeiterin (Jehnny Beth), die mit Perücke zur Arbeit geht. Camille, Émilie, Nora, Louise: vier Menschen, die bindungslos durch den dank Digital-Turbo (Netzwerke, Dating-Apps, Webcam-Pornos) erotisch beschleunigten Alltag navigieren.

Achtung, Kunst: Ein Film ganz in Schwarzweiß

Der Soundtrack pumpt an manchen Stellen ganz schön (und nicht nur, wenn wir die Heldinnen in einen Club begleiten) und konterkariert damit aber nicht unbedingt die poetische Textur des Films, der, Achtung: Kunst, ganz in Schwarzweiß gehalten ist. Es schläft ein Lied in jedem Beat. Den Autorenstrich hat sich Filmemacher Jacques Audiard diesmal teilweise ausgeborgt: Für das Drehbuch von „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ adaptierte er gemeinsam mit Léa Mysius und Céline Sciamma mehrere im Original in den USA angesiedelte Graphic Novels des Illustrators Adrian Tomine.

Deswegen bekommt die verletzliche Toughness der chinesischstämmigen Émilie, die nie ihre Oma im Altenheim besucht und amouröse Kränkungen mit sexuellem Engagement zu kurieren sucht, und die des ehrgeizigen Camille, der nur dort liebt, wo er auf Distanz gehalten wird, einen eminent amüsanten Touch. Spricht man nicht sowieso allenthalben vom „Comic relief“, dem befreienden Spaßmoment im allzu großen Ernst? Dieser Film, der, wie man nun mal so sagt, sehr stark von seinen Figuren lebt, ist komisch und leicht gerade dann, wenn sich die Leute Gemeinheiten an den Kopf werfen.

Heimat ist dort, wo das Fleischliche wärmt

Natürlich läuft ein Erzählwerk mit dem Mut zum Plakativen – Noras Versinken im Sumpf der völlig hohldrehenden Asozialität der Digital Natives, die Entdeckung ihrer wahren Sexualität – Gefahr, unglaubwürdig zu werden. Dieser Film ist, so ist man geneigt zu sagen, sehr französisch auch mit den Sexszenen, die diesem Versuch über Liebe heute überreichlich beigemischt sind.

Wenn Stockwerk über Stockwerk unzählige Menschen leben, ist Heimat dort, wo das Fleischliche wärmt. Und zwei zueinander kommen, vielleicht ja länger als nur für zwei Wochen.