Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky erzählt die 1920er-Jahre düster und beklemmend, der Thriller erinnert an “Babylon Berlin“.
Die Welt ist aus den Fugen. Zugegeben, das Zitat aus Shakespeares „Hamlet“ wird allzu oft bemüht. Aber selten trifft der Spruch so zu wie in Stefan Ruzowitzkys Kino-Albtraum „Hinterland“, der nun ins Kino kommt. Ein düsteres Drama über das Österreich der Zwischenkriegszeit, in dem Soldaten anno 1920 nach zwei Jahren russischer Kriegsgefangenschaft endlich in ihre Heimat zurückkehren. Nur um festzustellen, dass nichts mehr so ist, wie es mal war.
Der Kaiser ist weg, die einstige Großmacht nur noch ein unbedeutender Kleinstaat mit neuer, fremder Flagge. Auf die Veteranen, die für dieses Land den Kopf hingehalten haben, hat keiner gewartet. Sie werden beschimpft. Ins Armenhaus abgeschoben. Müssen betteln. Und werden nachts von ihren Kriegstraumata heimgesucht.
Kino: Österreichs Zwischenkriegszeit, so düster wie beklemmend
Regisseur Ruzowitzky hat für dieses düster-beklemmende Drama eine adäquat düster-beklemmende Ästhetik entwickelt. Dumpfe, entfärbte Bilder, in denen nur hin und wieder mal Primärfarben hervorstechen, während das meiste doch so aussieht, als sei einem beim Malen mit Wasserfarben das Grau ausgelaufen. Die Kulissen sind voller Schatten und Dunkelheit. Und nicht nur das: Straßen klappen steil in den Himmel, und Häuser stehen krumm und schief, als könnten sie jeden Moment zusammenfallen.
Das sieht aus wie die pastös gemalten Pappkulissen aus „Das Cabinet des Dr. Caligari“ und anderen existenzialistschen Stummfilmen jener Jahre, vermengt mit der hyperrealistischen Visualität moderner Graphic Novels. Eine völlig künstliche, aber kunstvolle, staunenswerte und überwältigende Bilderwelt, bei der die Perspektiven nicht mehr stimmen und die Naturgesetze aufgehoben scheinen. Es gibt keine Flucht-, nur Fliehpunkte. Kein Wunder, dass die Menschen in diesen Szenerien herumirren, stolpern und verloren gehen.
Horrortrip zwischen Kriegstraumata und Hedonismus
Auch die Kriegstraumata werden drastisch-originell visualisiert: Wird ein Soldat nachts von Albträumen gepeinigt, werden auf die nackte Wand dahinter Zerr- und Schreckensbilder projiziert. So nachvollziehbar ist die Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit von Kriegsheimkehrern, die sich nicht mehr zurechtfinden, wohl noch nie in Bilder umgesetzt worden. Die Zerrissenheit seiner Figuren ist das eigentliche Thema des Films. Doch obwohl einer dieser Veteranen einmal aufbegehrt gegen all jene, die im „Hinterland“ geblieben sind, also nicht vorn, an der Kriegsfront standen, ist der gleichnamige Film kein klassisches Heimkehrerdrama.
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Das wird vielmehr eingearbeitet in einen spannenden, vielschichtigen Thriller, der diese Zwischenzeit des radikalen Umbruchs in all seinen widersprüchlichen Facetten aufzeichnet. Mit seinen Gewinnlern, die davongekommen sind und dem Hedonismus frönen, vor allem aber den Verlierern, die alles verloren haben, Glaube, Familie, Vermögen, Vertrauen.
"Hinterland", eine Art "Babylon Wien" – inklusive Liv Lisa Fries
Nicht von ungefähr muss man da an die deutsche Erfolgsserie „Babylon Berlin“ denken über das Berlin der wilden Jahre kurz vor der Nazi-Zeit. Auch hier ist der Kriminaler ein traumatisierter Veteran. Und wie als Faustpfand tritt auch hier Liv Lisa Fries auf: zwar nicht als Kriminalassistentin, aber als Gerichtsmedizinerin, die allzu gern bei den Ermittlungen mitmischt. „Hinterland“ ist also eine Art „Babylon Wien“.
Auch hier treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Das erste Opfer ist ein Heimkehrer, der grausam getötet und an einem Gerüst gekreuzigt wird. Sein Kamerad Peter Perg (Murathan Muslu) wird der Tat verdächtigt und auf der Polizei rüde verhört. Bis der Polizeirat Victor Renner (Marc Limpach) die jungen Kollegen belehren muss, dass Perg vor dem Krieg selbst ein Inspektor war. Und nicht irgendeiner, sondern der beste seiner Zunft. Widerwillig wird er in die Ermittlungen einbezogen, als die „Bestie von Wien“ erneut zuschlägt.
Ein Serienmörder auf der Jagd nach Soldaten
Perg ahnt, dass der Täter es auf Soldaten wie ihn abgesehen hat. Er wird bald auch selbst von ihm beschattet. Perg wird aber auch von eigenen Schatten verfolgt, wird von den neuen Obrigkeiten verhöhnt, muss erfahren, dass ausgerechnet sein früherer Kollege Renner in seiner Abwesenheit etwas mit seiner Frau anfing. Und niemand an der Wahrheit des grausigen Falles interessiert scheint.
Einzig die gutgläubige Gerichtsmedizinerin – die einzige übrigens, die hier strahlendes Weiß trägt und sowas wie Unschuld verkörpert – ist schockiert darüber, wie grausam der Täter bei seinen Tableaux des Todes vorgeht. Perg entgegnet nur völlig desillusioniert, die irren Taten passten nur zu genau in die irre neue Zeit.
Das atemberaubende Setting entstand am Computer
Ruzowitzky, der 2009 für „Die Fälscher“ den Oscar für den besten fremdsprachigen Film gewann, dessen letzter Film aber (die auf Teenie-Niveau heruntergebrochene Hermann-Hesses-Adaption „Narziss und Goldmund“) wenig reüssieren konnte, kehrt mit „Hinterland“ zu seinen Ursprüngen zurück: Berühmt wurde der österreichische Regisseur für seine beiden „Anatomie“-Horrorthriller mit Franka Potente. „Hinterland“ ist sowas wie eine historische Version. Wobei sich Ruzowitzky, und auch darin ähnelt der Film „Babylon Berlin“, Parallelen zur Gegenwart nicht verkneifen kann. Und österreichische Schranzen ihr Fett wegbekommen wie sonst nur in Thomas-Bernhard-Dramen.
Die Schauspieler mussten diese Dämonen und Ängste übrigens vor einer leeren Green Screen spielen. Das atemberaubende Setting wurde erst später am Computer kreiert und hinzugefügt. So entsteht ein grandioses Zeit- und Zerrbild, in das Ruzowitzky munter verschiedene Genres zusammenrührt: Heimkehrerdrama, Krimi, Film Noir, auch eine Prise „Der dritte Mann“.
In Locarno gewann "Hinterland" den Publikumspreis
Und wie in jenem Nachkriegsklassiker werden auch hier Wahrzeichen der scheinbar so gemächlich-gemütlichen Donaustadt in eine Welt voller Abgründe gestoßen. Auf dem Filmfest von Locarno gewann „Hinterland“ den Publikumspreis. An diesem Donnerstag kommt er nun, nach einer ersten Premiere auf dem Filmfest Hamburg am Wochenende, auch hier in die Kinos. Und braucht für seine wuchtige, grandios komponierte Bilderwelt auch dringend die große Leinwand.
„Hinterland“, Thriller Ö/Lux/B/D 2021 von Stefan Ruzowitzky, mit Murathan Muslu, Liv Lisa Fries, Matthias Schweighöfer, Max von der Groeben, läuft im Abaton und in der Koralle