Hamburg. Beethovens Klavierkonzerte und noch viel mehr: Neue Alben von Krystian Zimerman, András Schiff, Yaara Tal, Igor Levit und Jan Lisiecki.
Der Trend geht gerade offenbar zur Familienpackung. Bevor Daniil Trifonov Anfang Oktober mit einer Einspielung von Bachs „Kunst der Fuge“ ein für ihn ziemlich neues Repertoire-Feld betritt, legen andere ähnlich ambitionierte Gesamtaufnahmen vor. Mit hochkomplexen Zyklen, die eine ganz andere Umgangstiefe voraussetzen als die vielen Bunte-Teller-Mischungen, die unentwegt den CD-Markt fluten.
Als wunderbares, feinsinniges Nachspiel zum fast komplett ausgefallenen Beethoven-Jahr beeindruckt die Aufnahme der fünf Klavierkonzerte, die Krystian Zimerman, Sir Simon Rattle und das London Symphony Orchestra Ende letzten Jahres aufnahmen, erst recht, weil das unter Corona-Bedingungen zu geschehen hatte (DG, 3 CDs, ca. 33 Euro).
Der kluge Perfektionist Zimerman macht sich seit Jahren rar, diese Aufnahmen belegen glänzend, warum: Was er von sich auf Tonträgern preisgibt, soll makellos und gründlich durchdacht sein. Sein Beethoven ist unaufdringlich überwältigend, die Dialoge mit dem von Rattle wunderbar gebändigten LSO haben nichts Forciertes, nichts Eitles, nichts Oberflächenpoliertes.
Schiff spielt auf einem Blüthner-Flügel von 1859
Drei Werke kürzer und grundsätzlich überraschend ist der Meinungsumschwung, den András Schiff bei seiner Aufnahme der zwei Brahms-Klavierkonzerte von Brahms vornahm (ECM New Series,
2 CDs, ca. 22 Euro). Im bisherigen Verlauf seiner Karriere ist Schiff nicht als auf Krawall gebürsteter Verfechter historisch informierter Aufführungspraxis aktenkundig geworden, im Gegenteil. Er ließ die Finger von diesen Lektionen und blieb bei seinen sonoren Klangidealen, echauffierte sich über den Pauschalklang von Steinway-Flügeln und beharrte auf seiner Bösendorfer-Vorliebe.
Nun aber: Mut zur Tücke, eine radikale Wende. Kein modernes Instrument sollte es sein, sondern ein Blüthner-Flügel von anno 1859, aus der Entstehungszeit dieser Meisterwerke, der heller und schlanker klingt. Und auch kein saftig opulentes Groß-Orchester, sondern der schnittigere, rauere, transparentere Klang des Orchestra of the Age of Enlightenment. Aufklärungsarbeit, allerdings. Man hört wieder die Kämpfe, die Spannungen, das Aufbäumen, die drastische Intensität einer wagemutigen Musik. Brahms zum Neuverlieben.
Yaara Tal spürt Johann Sebastian Bach nach
Das noch fehlende der großen B’s: Bach, Johann Sebastian, mit dem „Wohltemperierten Klavier“ als Bezugspunkt, von Yaara Tal, einer Hälfte des Klavierduos Tal & Groethuysen, für ihr Solo-Album „Tracing Bach“ maßgeschneidert (Sony Classical, ca. 14 Euro). Das Strickmuster ist so faszinierend wie komplex: Auf ein Bach-Präludium folgt eine Fuge in der gleichen Tonart – aber von Komponisten, die sich mit dessen Kunst der Fugenverfertigung auseinandersetzten.
Das geht vom ältesten Sohn Wilhelm Friedemann Bach über Schumann und Chopin bis zu Raritäten von Alkan oder Arensky bis zu einer es-Moll-Fuge zum Bauhaus-Künstler Lyonel Feininger, der auch komponiert hat. So entstehen überraschende Paare, über Jahrhunderte und Stilgrenzen hinweg. Und Tal spielt Bach so weich, in sich ruhend und romantisierend, dass es keine scharfen Bruchkanten zu den Epigonen gibt.
Studioaufnahme zeigt Mut von Igor Levit
Die CD-Karriere von Igor Levit ist schwerstgewichtig: 2015 der Dreier Diabelli / Goldberg / „People United“, 2019 alle 32 Beethoven-Sonaten, nun die nächsten episch weit ausholenden Kreise: Dmitri Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen, weit weniger wohltemperiert als das Vorbild Bachs, und dazu, weil ihm einfach viel zu einfach wäre, Ronald Stevensons „Passacaglia on DSCH“, ein Universum aus Ideen und ihren Auswirkungen, basierend auf dem Vier-Noten-Initial, das Schostakowitsch oft als Signatur in seine Werke hineinwob. Alles in allem knapp vier Stunden, eine klassische Schmerzgrenze bei Marathon-Läufen.
Man kann sich als Hörer in dieser Musik ebenso verlieren wie als Interpret. Beides dürfte ein wichtiger Grund für Levit gewesen sein, sich und seine Fan-Gemeinde dieser Strapaze zu stellen. Unterhalten sollen andere, diese XL-Projekte haben einen fundamentaleren Anspruch. Die Studioaufnahme dokumentiert erneut das Ringen mit den ganz großen Themen und zeigt auch Reife und Mut dieses Pianisten. Die Schostakowitsch-Präludien waren schon vor Levit Standardwerke, der Stevenson-Zyklus hat es verdient, durch diesen prominenten Anwalt seinen Geheimtipp-Status zu verlieren („On DSCH“, Sony Classical, 3 CDs, ca. 26 Euro).
Gesucht: der leise Zauber der Nachtstücke von Chopin
Etüden und die Konzerte sind von Jan Lisiecki bereits in den Kasten gebracht, die dritte Beschäftigung mit Chopin gilt nun den Nocturnes (DG, 2 CDs, ca. 14 Euro). Diese Gesamtaufnahme möchte die leisen Zauber dieser Nachtstücke entdecken, gerade so viel Licht ins Dämmern bringen, dass man das innere Funkeln miterleben kann.
Doch so ganz kann Lisiecki auch hier nicht aus seiner freundlichen, leicht unverbindlichen Musterpianisten-Haut heraus. So klangschön und „richtig“ vieles auch klingt, die eigene Handschrift, das Spezielle jenseits des Perlens? Man wartet darauf, von Stückchen zu Stückchen. Liebesmühe allein genügt noch immer nicht.