Hamburg. Pianist Igor Levit beendete seinen Sonaten-Zyklus, ein Konzerterlebnis von beglückender Intensität.
Mitten im Konzert sieht Igor Levit sich um. Alles folgt seinem Blick: Ein Besucher verlässt während des Applauses den Saal, an der Hand ein blondes Kind samt Kuscheltier. Sie gehen unauffällig, respektvoll im Schatten des Scheinwerferlichts. Es war aber auch lange genug für das Kind, scheint Levits Lächeln zu sagen. „Kommt noch eine Sonate“, zeigt er an, als er sich wieder der Tastatur zuwendet.
Eine noch. Aber was für eine. Mit Beethovens letzter Klaviersonate c-Moll op. 111 krönt Levit die Aufführung aller 32 Sonaten in der Elbphilharmonie. Auch diesem Zyklus hatte die Pandemie ihren Stempel aufgeprägt. Konnten die ersten vier Konzerte im Herbst 2019 noch stattfinden, so mussten für die nächsten vier, die für die gerade vergangene Saison 2020/21 terminiert waren, sowohl der Künstler als auch der Veranstalter, die Konzertdirektion Dr. Goette, manchen Handstand machen. Mehrmals wurden Termine verschoben. Nun sind alle Konzerte glücklich ins Häuschen gebracht.
Igor Levit in der Elbphilharmonie mit aufmerksamem Publikum
Levit ist nicht nur als Künstler, sondern auch als homo politicus eine überaus öffentliche Person. Er mischt sich ein, riskiert Auseinandersetzungen, twittert, ist andauernd online. Aber auf der Bühne ist er an diesem Abend nichts weiter als ein Pianist, der sich an einen Achttausender der Klavierliteratur wagt, die drei letzten Beethoven-Sonaten. Vollkommen konzentriert, zu jeder Zeit eins mit den Stimmungen und Schattierungen der Musik. Er schafft es, den Saal auf eine Intimität einzuschwören, als säßen alle in seinem Wohnzimmer im Kreis um ihn herum.
Das beginnt mit dem mondsanft schimmernden Klang im Kopfsatz der Sonate E-Dur op. 109. Das Vivace ma non troppo fließt dahin wie ein Gedankenstrom, unvermittelt unterbrochen von Forte-Schlägen. Wenn das Thema in einer höheren Lage wiederkehrt, bekommt die Tongebung beinahe etwas von einem Glöckchenspiel: zart, aber deutlich artikuliert, zu Herzen gehend in ihrer unpathetischen Regelmäßigkeit. Das Thema des Finalsatzes trägt Levit mit gebetsartiger Ruhe vor und nimmt es dann so souverän wie engagiert mit all den Trillerketten, Sprüngen und aberwitzigen Läufen der sechs Variationen auf.
Seelenreise findet nach dramatischen Passagen befreiendes Ende
Schon die drei Sätze der E-Dur-Sonate sind attacca, also ohne abzusetzen ineinander übergegangen. Levit schließt auch noch die folgende As-Dur-Sonate op. 110 an, ohne die Hände überhaupt sinken zu lassen. Auch hier führt er von Beginn an auf das Finale hin, in dem die Seelenreise nach dramatischen Passagen ihr auch glücklich befreiendes Ende nimmt. Von der Fugenform lässt sich Beethoven keinerlei Fesseln des Ausdrucks anlegen.
Die drei Sonaten schrieb er in einem Zug in den Jahren 1819 bis 1822. Es sind nicht seine letzten Klavierwerke, sie haben keinen Vermächtnischarakter wie etwa die späten Streichquartette. Bei Levit klingen sie wie Erzählungen aus dem Leben, aus dem Gefühlsleben des Komponisten. Eine tröstliche Wärme scheint im Saal zu leuchten und die Anwesenden zu einen; so aufmerksam ist das Publikum nicht allezeit. Gedankenloses Husten im Konzert? Eine seltsame Angewohnheit aus lange zurückliegenden vorpandemischen Zeiten.
Levit macht Reflexion und Selbstbeschränkung hörbar
Op. 111 in c-Moll gilt als Schlussstein in Beethovens Sonatenwerk. So riesig und komplex die zwei Sätze der Sonate sind, es ist keine Note zu viel darin. Levit macht Reflexion und Selbstbeschränkung hörbar, gerade darin liegt das Bezwingende dieser weltumspannenden Musik.
Standing Ovations, anhaltender Jubel, ein sichtlich beglückter und erschöpfter Künstler. Hier hat sich ein Interpret in der Kraft seiner Jugend gezeigt. Die Sonaten werden ihn sein Pianistenleben hindurch begleiten. Wie werden sie wohl in späteren Jahren des Igor Levit klingen?