Hamburg. Der Hamburger Generalmusikdirektor beschreibt Begegnungen, die ihn geprägt haben – und warum er einst gefeuert wurde.
Pleiten, Pech und Pannen sind mitunter sehr handliche Helfer, um mit einer Karriere als Künstler voranzukommen. Die Welt der Klassik macht da keine Ausnahme, warum auch. Je prominenter die Fettnäpfchenbetreter, desto erleichternder, wenn man als Außenstehender erleben darf, dass auch die A-Liga mühelos mit versemmelten Gelegenheiten aufwarten kann.
Kent Nagano, seit 2015 Hamburger Generalmusikdirektor, ist da keine Ausnahme. Die Corona-Zeit hat ihm offenbar genügend Zeit gegeben, zehn der schönsten lehrreichen Patzer und Aha-Momente zu bündeln und diese Lektionen in Buchform zu bringen.
Kent Nagano beschreibt Begegnungen mit Menschen
Der Aufbau dieser zehn „Du kannst dich ruhig auch mal blamieren“-Gebote ist simpel: Er beschreibt Begegnungen mit Menschen, von denen er lernen konnte oder wollte, berichtet, wie diese Kollisionen abliefen und was er daraus mitgenommen hat. Nagano hat unter anderem Soziologie studiert, nicht nur seine Musiker-Hirnhälfte weiß also, wie wichtig es ist zu wissen, wie Menschen ticken.
Künstlerinnen und Künstler haben eh oft ihren ganz eigenen Rhythmus. Ums rein Handwerkliche ging es dabei in den seltensten Fällen; wer eine Dirigier- oder Orchesterdressur-Anleitung erwartet, muss zu anderen Büchern greifen. Anders als sein Hamburger Vor-Vorgänger Ingo Metzmacher, der in zwei strukturklugen, raffiniert beschreibenden Büchern darlegte, welcher Komponist ihm warum wichtig ist, geht Nagano genereller vor.
Nagano: Erst gefeuert, dann wieder eingestellt
Nagano, wie es so seine Art ist, will immer das große Ganze zeigen, den weiteren Blick, die Totale im Detail. Also beschreibt er im ersten Kapitel, durchaus amüsant zumindest für alle anderen, wie er sich als junger, mies bezahlter Assistent in Boston für die Dirigentin Sarah Caldwell die Überleitung in eine Arie in „Orpheus in der Unterwelt“ aus den Rippen schwitzen musste – und vor lauter Abgabestress vergaß, dass Trompeten transponierende Instrumente sind, also angepasstes Notenmaterial benötigen. Die Trompeter hatten ihren Spaß und Nagano wurde gefeuert. Aber, Happy End, auch wieder eingestellt.
Leonard Bernstein ließ ihn Blut und Wasser schwitzen, als es darum ging, warum Tschaikowsky in der „Pathétique“ an irgendeiner Stelle ein Fis und kein As geschrieben hatte. Nagano überlegte fieberhaft und eine gefühlte Ewigkeit, fand keine Antwort. Bernstein hatte auch keine, aber viel Spaß daran, seinen Schüler genau deswegen scharf anzugrillen. No pain, no gain.
15-Sekunden-Ultimatum von Frank Zappa
Frank Zappa, DER Frank Zappa, stellte Nagano ein 15-Sekunden-Ultimatum für eine Zusammenarbeit. Beim Komponisten Olivier Messiaen und seiner Frau Yvonne Loriod lernte er, dass das Leben auch aus mehr als Arbeit bestehen darf. Während seiner Zeit am Lyoner Opernhaus hatte Nagano mit dem dortigen Intendanten Jean-Pierre Brossmann einen begnadeten Sponsoren-Melker neben sich, der für teures Unmögliches mitunter nur wenig länger brauchte als für das Tagesgeschäft.
Auch das Kapitel über die Begegnung mit der isländischen Artpop-Elfe Björk ist von sympathischem Charme durchzogen, weil sich komplett unterschiedliche Welten zufällig begegneten und genau deswegen ernst nahmen: Auf einem Flug von London nach San Francisco sah er ein Björk-Musikvideo im Bordprogramm, damit hatte Nagano seine Wunsch-Sprechsängerin für eine Aufführung von Schönbergs „Pierrot lunaire“ gefunden.
Kent Nagano feiert im November 70. Geburtstag
Im Kapitel über die Freundschaft mit dem Pianisten Alfred Brendel steht einer jener Sätze, die besonders typisch sind für Naganos Philosophie: „Es ist die Konstanz im Leben, die zählt, nicht die Schnelllebigkeit, die dazu verleitet, vieles als obsolet anzusehen und damit den Blick für das Wesentliche zu verlieren.“ Viel zu lang für einen Glückskeks, dennoch nicht verkehrt.
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Es ist nicht das erste Mal, dass Nagano mit der Autorin Inge Kloepfer zusammenarbeitet, um Gedanken und Erkenntnisse zu Papier zu bringen; vor zwei Jahren erschien mit „Erwarten Sie Wunder!“ eine erste grübelnde Lebenslauf-Etappenbesichtigung. Und weil Nagano in diesem November seinen 70. Geburtstag feiern wird, könnte es ja durchaus sein, dass irgendwann noch eine dritte Runde durchs Gedächtnis folgt.
Buch: Inge Kloepfer/Kent Nagano „10 Lessons of my Life: Was wirklich zählt“ (Berlin Verlag, 208 Seiten, 22 Euro)
Lesung: 9.12., 19 Uhr, Kulturkirche Altona, Max-Brauer-Allee 199, Karten (13,20 Euro) im NDR Ticketshop oder unter T. 0511/27 78 98 99
Aktuelle CD: Messiaen „Poèmes pour Mi“/ La Transfiguration de Notre Seigneur Jésus-Christ“ u.a. BR-Symphonieorchester und -Chor (BR Klassik, 3 CDs, ca. 28 Euro)