Hamburg. Fotograf Andreas Mühe hat seine Vergangenheit in einer bemerkenswerten Ausstellung verarbeitet, zu sehen in der neu eröffneten Galerie.

Schon am Eingang der Galerie müssen sich Besucherinnen und Besucher diesem eindringlichen Blick stellen, der einen nicht mehr loslässt. Und der einem auf eigenartige Weise sehr vertraut erscheint. Es sind die Augen des 2007 verstorbenen Schauspielers Ulrich Mühe, der in seiner letzten Rolle als Stasi-Hauptmann in „Das Leben der Anderen“ brillierte. Es ist eine Fotografie aus jungen Jahren.

Gegenüber ein nur scheinbar trautes Zusammentreffen einer Großfamilie nebst Klavier: Das gesamte Setting wirkt inszeniert, dazu die in der Bewegung verharrenden Personen: Das Familienoberhaupt Mühe blickt wiederum starr nach vorn, flankiert wird er von zwei Blondinen: der Schauspielerin Jenny Gröllmann, mit der Ulrich Mühe von 1984 bis 1990 verheiratet war, und die er zuletzt der Stasi-Mitarbeit beschuldigte, und der aus dem Westen kommenden Schauspielerin Susanne Lothar, von 1997 bis 2007 mit Mühe liiert.

Ausstellung „Mischpoche II“ in neuer Galerie Capitis

Ebenfalls im Bild: Andreas Mühes Halbschwester, Schauspielerin Anna Maria Mühe. „So hat dieses Treffen natürlich nie statt gefunden“, kommentiert Anatol Kotte. Er ist Fotograf, ebenso wie der Produzent dieser Porträts, der in Berlin lebende Andreas Mühe. „Mischpoche II“ ist die erste Ausstellung in den Räumen von Kottes neu eröffneter Galerie Capitis an der Kaiser-Wilhelm-Straße.

Die persönliche Fliehkraft dieser deutsch-deutschen Familie, man spürt sie in diesen Aufnahmen; sie steht stellvertretend für den Zeitlauf der Geschichte. So erklärt sich auch der Titel der Ausstellung: „Mischpoche“ kombiniert die Epoche mit Mischpoke, dem längst in die Alltagssprache übernommenen jiddischen Begriff für Familie.

Andreas Mühe mit Politikerporträts bekannt geworden

Andreas Mühe wurde 1979 in Chemnitz geboren und ließ sich zunächst in Berlin zum Fotolabortechniker ausbilden. Nach Assistenzstellen bei den renommierten Fotografen Ali Kepenek und Anatol Kotte machte sich Mühe als Fotograf selbstständig. Bekannt wurde er erstmals mit Politikerporträts. An seinem jüngsten Projekt, den Bildern seiner Familie, hat er vier Jahre lang gearbeitet.

Andreas Mühe 2017 in den Deichtorhallen.
Andreas Mühe 2017 in den Deichtorhallen. © Marcelo Hernandez

Nicht nur väterlicherseits wurde Andreas Mühe früh geprägt, was Bühne und Theater, aber auch ein Leben in der Öffentlichkeit betreffen. Seine Mutter ist die Theaterintendantin Annegret Hahn. Diese beiden Persönlichkeiten sind, zusammen mit weiteren Verwandtschaftsmitgliedern, die Protagonisten einer Werkserie, die Mühe 2019 für eine Ausstellung im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart, in Berlin schuf und die nun in Auszügen in der neuen Hamburger Galerie Capitis unter dem Titel „Mischpoche II“ zu sehen ist.

Auch verstorbene Mitglieder Teil des Porträts

In großformatigen fotografischen Familienporträts vereint Mühe die lebenden wie verstorbenen Mitglieder seiner Familie von Seiten der Mutter wie des Vaters. Die bereits verstorbenen Personen ließ er, von Fotovorlagen ausgehend, von der Londoner Firma, die auch für Madame Tussaud arbeitet, in einem aufwendigen Verfahren als verblüffend lebensecht anmutende Skulpturen nachbilden. Faszinierend ist, dass auf diese Weise alle Abgebildeten in ihren Vierzigern „festgefroren“ wirken.

Die Fotografien sind bei Mühe nur Ausgangsmaterial, die zu plastischer Ausformung anregen und schließlich zu einer Choreographie wie auf einer Bühne werden. Es verstärkt die ambivalente Bedeutung von Fotografie zwischen Wahrheit und Konstruktion. Hier verwebt sich die persönliche Geschichte des Künstlers mit sozialen und gesellschaftlichen Zuständen sowie mit der künstlerischen Tradition des Familienporträts. „Andreas Mühe steht mit seinen Arbeiten für eine Weiterentwicklung der Fotografie in Richtung Konzeption, sie ist als Kunst klar erkennbar“, sagt Oliver Heinemann, Partner von Anatol Kotte.

Ausstellung: Auch viele kleine Bilder zu sehen

Neben den großen Familienporträts sind auch viele kleiner Bilder zu sehen, die die Skulpturen der Verstorbenen in unterschiedlichen Phasen des Entstehungsprozesses dokumentieren und inszenieren. Diese Aufnahmen erinnern nicht an reale Personen, sie wirken mal wie Artefakte aus ägyptischen Gräbern und dann wieder wie Baupläne für Künstliche Intelligenz, was durch die spezielle Lichtsituation im Untergeschoss der Galerie Capitis verstärkt wird, der „Krypta“, wie Anatol Kotte den Raum nennt.

Seit Kurzem betreiben er und Oliver Heinemann neben der Galerie auch das benachbarte Khrome, Fachgeschäft für analoge Fotografie. Demnächst soll das ehemalige „Lilienthal“-Restaurant wiedereröffnet werden. Neubeginn und Zerfall liegen nah beieinander: Andreas Mühe, der einen Tag vor Ausstellungsbeginn Vater geworden ist, zerstörte jüngst alle Skulpturen seiner Familienmitglieder.

„Mischpoche II“ bis 2.12., Capitis Galerie (U Gänsemarkt), Kaiser-Wilhelm-Straße 77, Mo-Sa 13.00-19.00, Eintritt frei, www.capitis-studios.de