Hamburg. Die Hamburger Kunsthalle zeigt mit 300 Werken die erste große Retrospektive in Deutschland über die tschechische Künstlerin.

„Von jenem Prag, das Apollinaire besungen hat, und von seiner wunderbaren Brücke, die vom Vergangenen ins Ewige führte – was bleibt uns von all dem? Es bleibt uns Toyen.“ Der französische Dichter André Breton schrieb diese Zeilen 1953 über „seine Freundin unter den Frauen“, die tschechische Künstlerin Marie Čermínová (1902 in Prag geboren, 1980 in Paris gestorben).

Dass weder ihr ursprünglicher Name noch ihr gewählter Künstlerinnenname Toyen, abgeleitet vom französischen „Citoyen“ für „Bürger“, den meisten ein Begriff ist, liegt daran, dass sie außerhalb ihrer Heimat Prag und ihrer Wahlheimat Paris kaum bekannt war – obwohl sie eine Pionierin in der künstlerischen Avantgarde und Gründungsmitglied der Surrealistengruppe der ehemaligen Tschechoslowakei war, mit Kollegen wie Salvador Dalí, Yves Tanguy, Max Ernst, René Magritte, Paul Klee und Man Ray eng befreundet und im Austausch war sowie gemeinsam mit ihnen ausstellte.

Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle

Porträt der tschechischen Künstlerin Toyen um 1919. Bürgerlich hieß sie Marie Cermínová.
Porträt der tschechischen Künstlerin Toyen um 1919. Bürgerlich hieß sie Marie Cermínová. © Repro-Foto: © Christoph Irrgang | Repro-Foto: © Christoph Irrgang

Eine mit 300 Werken wuchtige Ausstellung in der Galerie der Gegenwart der Kunsthalle, der ersten monografischen Schau der Künstlerin überhaupt in Deutschland, will diesen Missstand endgültig beseitigen und zur selben Zeit Toyen aus der „Surrealismus-Verengung lösen“, so Direktor Alexander Klar. Zeit ihres Lebens habe die Malerin eindeutige Kategorien, im Leben wie in der Kunst, abgelehnt.

Androgyn mit kurzen Haaren und Hut wird sie auf einer Fotowand im Entree der Galerie abgebildet. Bereits mit 17 Jahren verließ sie ihre Familie, machte sich selbstständig, wurde politisch links aktiv. „Sie wollte weder Vaters Kind noch jemandes Frau sein, daher wählte sie den geschlechtsneutralen Namen des Bürgers“, beschreibt Annabelle Görgen-Lammers das Wesen der Künstlerin.

Toyen experimentierte mit Airbrush-Pistolen

„Sie war unserer heutigen Genderdebatte 80 Jahre voraus.“ Um sich ihr zu nähern, reiste die Kuratorin an Orte aus Toyens Leben, sprach mit Weggefährten, darunter die französische Dichterin Annie Le Brun, Co-Kuratorin der Ausstellung am Musée d’Art Moderne de Paris.

„Mitternacht, gewappnete Stunde“, 1961.
„Mitternacht, gewappnete Stunde“, 1961. © © VG Bild-Kunst, Bonn 2021 Foto: © Privatsammlung

Erotik, Revolte, Traum, Humor und Alchemie sind die bestimmenden Themen ihres Schaffens, das sie mit scheinbar naiver Stilistik nach ihrer Studienzeit an der Prager Kunstgewerbeschule begann, etwa, indem sie Zirkus- und Theaterszenen verbildlichte. In den 1920er-Jahren experimentierte Toyen mit Schablonen, Airbrush-Pistolen, Spachteln und mit Sand angedickten Farben, zu sehen in großformatigen wie farbgewaltigen Bildern wie „Oase“ oder „Zwielicht im Urwald“. In einer neuen Phase wandte sie sich dem Surrealismus zu und hinterfragte in „Magnetische Frau“ oder „Rosa Gespenst“ (beide 1934) das Objekthafte.

Wie durch ein Wunder entging sie der Deportation

Toyen: „Nach der Vorstellung“, 1943, Öl auf Leinwand.
Toyen: „Nach der Vorstellung“, 1943, Öl auf Leinwand. © © VG Bild-Kunst, Bonn 2021 Foto: © Alšova jihočeská galerie, Hluboká nad Vltavou | © VG Bild-Kunst, Bonn 2021 Foto: © Alšova jihočeská galerie, Hluboká nad Vltavou

Stets spiegelte sich Toyens Leben in ihren Werken; so verfasste sie während der deutschen Besatzungszeit in Prag, durch die sie in den Untergrund getrieben wurde, die Zeichnungen „Der Schießplatz“ und „Krieg! Versteck dich.“.

Wie durch ein Wunder entgingen sie und ihr Partner, der Dichter Jindřich Heisler, den sie jahrelang in ihrer winzigen Wohnung vor NS-Soldaten versteckte, der Deportation. Die bedrohliche Situation verarbeitete Toyen in verstörenden Werken wie „Nach der Aufführung“ von 1943.

Ausstellung in Hamburg würdigt Künstlerin endlich

Nach der Machtübernahme der Kommunisten 1948 emigrierte die Künstlerin nach Paris. In ihrem Spätwerk arbeitete sie verstärkt mit Collagen, erforschte die Nacht und ihre Magie, etwa in dem rätselhaften Gemälde „Mitternacht, gewappnete Stunde“.

1980 stirbt Marie Čermínová von der Kunstwelt unbeachtet. Ihre Bilder wurden bei einer Versteigerung in alle Winde verstreut. Es ist ein riesiger Verdienst, dieses Lebenswerk nun an einem Ort so beeindruckend gebündelt erleben zu können.

„Toyen“ 24.9.-13.2.2022, Galerie der Gegenwart (U/S Hauptbahnhof), Glockengießerwall 5, Di-So 10.00-18.00, Do 10.00-21.00, Eintritt 14,-/8,- (erm.), www.hamburger-kunsthalle.de