Hamburg. Am Sonntag spielt der Geiger zum Saisonauftakt der Philharmoniker in Hamburg Schnittke. Von besonderen Erinnerungen und Selbstkritik.

Bei einem Auftritt im Kleinen Saal der Elbphilharmonie im Herbst 2017 war es Luigi Nonos „La lontananza nostalgica utopica futura“, eine Gratwanderung, erfunden für Gidon Kremers Geigenton und dessen elektronische Verfremdung. Jetzt ist er wieder einmal da, und Gidon Kremer wäre nicht Gidon Kremer, wenn er nicht eine weitere seiner musikalischen Herzensangelegenheiten vorstellen würde. Obwohl: zurückbringen in eine Heimat auf Zeit wäre eine passendere Formulierung.

Zum Saisonauftakt der Philharmoniker spielt Kremer das dritte der vier Violinkonzerte von Alfred Schnittke – Wahl-Hamburger, Weltbürger, 1998 in dieser Stadt gestorben. Und, freundlich ausgedrückt: als historische Größe nicht mehr ganz weit vorn im Gedächtnis dieser Musikstadt.

Kent Nagano dirigiert in der Elbphilharmonie

Kent Nagano dirigiert, ergänzt wird das Stück mit Mahlers Bearbeitung von Schuberts „Tod und das Mädchen“, Martina Gedeck rezitiert Texte Schubert, Heine und Matthias Claudius. Gespielt hat Kremer das 3. Konzert oft, aber „ich war kein Geburtshelfer. In meinem Leben habe ich mir sehr selten den Luxus erlaubt, einem Komponisten etwas ins Gewissen zu sprechen. Und Alfred schon gleich gar nicht.“

Zwei Momente der jahrzehntelangen Freundschaft mit „Alfred“ fallen Kremer spontan ein: Die „Glückszustände“ bei der Aufnahme von Schnittkes Klavierquintett, 1976, mitten in der Nacht, von 23 Uhr bis 4 Uhr morgens im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums. Kremer hatte sich ins Büro eines Entscheiders der Plattenfirma Melodya „gedrängt“ und ihm mit einem Aufnahmegerät und vielen insistierenden Worten vorgeführt, was er da gerade ablehnen wolle.

Kremer ist sein härtester Kritiker

Am Ende kam vom realsozialistischen Platten-Boss ein (wahrscheinlich kapitulierend müdes) „Macht es...“ Und ein Besuch von Schnittke 1993 bei Kremers Festival in Lockenhaus, das Programm drehte sich um Schumann und Schnittke. Aus dem Publikum kam die Frage, was Schnittke über Schuman denken würde, und seine Antwort war: „Ich beneide ihn.“ Zur chronischen Vergesslichkeit der Konzert-Branche beim Thema Schnittke meint Kremer: „Dass er eher seltener gespielt wird, sagt nichts über die Qualität seiner Werke.“

Was ihn selbst angeht, ist Kremer wohl sein härtester Kritiker. Nach einem seiner Meinung nach einem gelungenen Abend komme am nächsten Morgen zwar nicht die Skepsis, ob am nächsten wohl wieder dieses Niveau erreicht werden könne. Stattdessen Gedanken, „dass man sich auf etwas anderes einrichten muss“.

Gidon Kremer: „Ich bin kein Freund der Perfektion"

Und überhaupt: „Ich bin kein Freund der Perfektion, aber mir selber verzeihe ich nur selten einen falschen Ton.“ Die zwangsstillen Monate der Corona-Pandemie hat Kremer auch damit verbracht, sich dennoch alte eigene Aufnahmen anzuhören. Hier und da war er tatsächlich nicht allzu unangenehm überrascht. Sie waren „doch nicht so schlecht…“, urteilt er, ganz leicht amüsiert, ziemlich eindeutig.

Deutlich eindeutiger wird der inzwischen 74-Jährige, als die Sprache auf einen Artikel kommt, der 2019 in Hannover erschien. Noch 100 Konzerte würde er spielen wollen, danach sei Schluss. „Den Satz habe ich gelesen, aber nie gesagt“, so sein Kommentar dazu. Hin und wieder käme es vor, dass er auf die Bühne gehe und glaube, das sei sein letztes Konzert. Doch dann überzeugt er sich immer wieder spielend vom Gegenteil. Die Kombination von Geben und Nehmen, einer Bühne, Publikum und Musik ist offenbar einfach stärker.

Konzerte: 19.9., 11 Uhr / 20.9., 20 Uhr. Elbphilharmonie, Gr. Saal.; evtl. Restkarten