Hamburg. So eine Intensität kriegt der beste Stream nicht hin: Unter den famosen Solisten ist vor allem Elsa Dreisig in der Titelpartie sensationell.
Die digitale Premiere von Massenets „Manon“ im Januar war schon ein Riesenerfolg für die Staatsoper. Aber das Stück jetzt vor Ort zu erleben, in einer Premiere mit Publikum, ist doch nochmal etwas ganz, ganz anderes.
Nach dem ausgiebigen Konsum von Videostreams, in denen die Bildregie vorsortiert, was wir sehen und was nicht, nimmt man die Fülle an Eindrücken im Saal viel bewusster wahr: Die anderen Menschen, die zwar weit voneinander entfernt sitzen, aber gemeinsam reagieren. Die Weite der Bühne, die mehr Dimensionen eröffnet als es ein Bildschirm jemals kann. Und vor allem ist da die reale Begegnung mit der Kunstform Oper, die viele Sinne anspricht und berührt.
Tragische Liebesgeschichte in der Jetztzeit
In der Hamburger „Manon“ ist das ein besonderer Glücksfall, weil musikalische und szenische Ebene so eng und sensibel verzahnt sind.
Regisseur David Bösch erzählt die tragische Liebesgeschichte von Manon Lescaut und Chevalier Des Grieux in der Jetztzeit. Die beiden treffen sich zufällig in einer abgeranzten Bahnhofskneipe; sie trägt Strickschal zum schlabbrigen Streifenpulli und soll bald ins Kloster. Dabei schlummert in ihr ein Partygirl. Und genau das wird ihr Glück zerstören. Als Chiffre für Manons Lust auf Luxus, Geld und Lotterleben, die ihr Des Grieux nicht erfüllen kann, hat Patrick Bannwart im dritten Akt eine Glamourwelt im Vegas-Style gebaut. Eine Explosion aus falschem Silber. Das Glitzern brennt in den Augen. So eine Intensität kriegt selbst der beste Stream nicht hin.
Solisten singen und spielen hinreißend
Es sind nicht nur die großen Momente, sondern auch viele kleine Gesten, die Ideenreichtum und Sorgfalt der Produktion offenbaren. Mit einem Harmoniewechsel der Bläser wendet Manon den Kopf und verweigert den Weg zum ersten Kuss: Solche Details selbst zu entdecken, ohne dass die Kamera sie heranzoomt, ist eine wahre Freude.
Das gilt, mit wenigen Abstrichen, auch für die Musik. Das Philharmonische Staatsorchester spielt nach langer Manon-Pause verständlicherweise noch nicht wieder so geschmeidig wie beim Stream, findet aber unter Sébastien Rouland viele zarte Schattierungen und weiche Farben. Nur die Koordination mit dem Chor, in den Logen platziert, holpert heftig.
Aber das fällt kaum ins Gewicht, wenn die Solisten so hinreißend singen und spielen wie hier. Björn Bürger als Manons Cousin mit kernigem Bariton, Ioan Hotea als leidenschaftlich liebender und leidender Des Grieux. Und eine sensationelle Elsa Dreisig in der Titelpartie, die scheinbar mühelos zwischen schlichten Tönen und Koloraturenglitter hin und her switcht, die mädchenhafte Unschuld und frauliche Wärme vereint und uns die Brüche der Figur Manon so anrührend nahebringt. All das wieder ungefiltert einsaugen zu können: Zum Niederknien!