Hamburg. Sophie Scholls Leidensgeschichte berührt als “Graphic Opera“. Patricia Kopatchinskajas “Der Tod und das Mädchen“ läuft beim Musikfest.

Einerseits erblüht eine weiße Rose aus der Handfläche einer jungen, zum Tode verurteilten Frau als Symbol des Widerstands, das sie überleben wird. Während andererseits ein Streicher-Ensemble nicht spielt, sondern summt und das manisch zuckende Gesicht einer sehr unklassisch singenden Weltklasse-Geigerin über einige Monitore flackert. Zu hören sind Matthias Claudius’ Textzeilen aus „Der Tod und das Mädchen“, zu denen Schubert ein berühmtes Lied komponierte. „Gib deine Hand, du schön und zart Gebild! Bin Freund und komme nicht zu strafen.“

Zwei aktuelle Beispiele für die Musikfilm-Arbeitsmaxime: Nichts muss, alles kann. Sie sind weder traditionell abgefilmte Opern-Inszenierung noch Konzert-Doku, sie bilden an den Vorgaben des Originals entlang ab oder montieren eine Collage aus Stücken verschiedener Epochen, passend zum jeweiligen Leitmotiv. Konventionsferne Musik-Verfilmungen haben enorme Freiheiten und riesige Möglichkeiten beim Erzählen und Bebildern. Stand- und Spielbein-Posen interessieren hier niemanden.

Sie können den Blick auf Details richten, sie können Verbindungen herstellen und betonen, die erst sich durch den Umgang mit dem Spiel-Material ergeben. Sie schaffen sich ihre Bühnen selbst, ob real oder computergeneriert. Zwei ebenso außergewöhnliche wie aufregend, anrührend gelungene Beispiele sind nun online zu sehen, kostenlos und, wichtiger noch, ohne das Gefühl, mit einer coronakonformen Notwehr-Lösung abgespeist zu werden.

"Weiße Rose: "Graphic Opera" in knapp 70 Minuten

Nach dem Avatar-Experiment mit Schönbergs „Pierrot lunaire“, bei dem Hauptperson und Musik bildstark durch eine verrätselte Handlungsmatrix gepixelt wurden, und der ins Internet verlegten „Manon“-Premiere kam in der Staatsopern-Intendanz die Idee auf: Das könnten wir jetzt doch öfter anders machen; nicht weil wir es müssen, sondern weil wir es wollen. Als Fügung des Schicksals fand sich in der Haus-Historie Udo Zimmermanns Kammeroper „Weiße Rose“, deren zweite Fassung, die sich ganz und gar auf das Innenleben von Sophie und Hans Scholl fokussiert, in der Opera stabile 1986 uraufgeführt wurde. Nun also das Wiedererleben, aber als „Graphic Opera“ in knapp 70 Minuten.

„Manon“-Regisseur David Bösch und sein Team nahmen das Stück pünktlich zum 100. Geburtstag der Widerstandskämpferin beim gesungenen Wort: Die real gefilmten Passagen der 16 ineinanderlaufenden Szenen zeigen das Geschwisterpaar in ihren grabkammerengen Einzelzellen kurz vor der Ermordung durch das Fallbeil, durchdrehend, verängstigt, gedanklich Abschied nehmend. Weil das Stück auch als mahnendes Lehrstück für Schülerinnen und Schüler gedacht ist, kommt in den animierten Teilen mit ihren Scherenschnitt-Silhouetten eine drastische Schwarz-Weiß-Ästhetik zum Einsatz. Sie zeigt in den Rückblende-Schlüsselszenen, wie das Nazi-Regime mit Gegnern und Schwachen umging.

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Die Musik der Stimmen und der 15 Instrumente kommt, von Nicolas André dirigiert, vom Band, die Partien sind beeindruckend besetzt: Marie-Dominique Ryckmanns singt mit engelsgleicher, fast jenseitiger, starker Intensität. Michael Fischer passt bestens ins Format der Rolle. Sänger-Darsteller auf einer Opernbühne zu sein ist eine Sache. Vor Kameras auf kürzeste Distanz so zu agieren eine gänzlich andere. Von Episode zu Episode steigert sich die Spannung, die Perspektive der fürchterlichen letzten Nah-Aufnahme von Sophie ist komplett filmisch umgesetzt. Übrigens: Hinter den Abspann haben Bösch und seine Ausstatter Patrick Bannwart und Falko Herold, wie in fast jedem Marvel-Superhelden-Film üblich, noch eine Post-Credit-Szene gestellt.

Musik-Verfilmungen haben enorme Erzähl-Freiheiten

Die Zeit rast Richtung Ende, wie der schemenhaft durchs Bild huschende Zug, mit dem Quinn Evan Reimann seinen etwa einstündigen Konzertfilm über „Der Tod und das Mädchen“ beginnen lässt. Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja und die Camerata Bern, deren musikalische Leiterin sie seit 2018 ist, wollten mit diesem Programm auf Europatournee gehen. Stattdessen blieben sie alle zu Hause und drehten tagelang in einer eisigen, dekorativ verranzten, raffiniert ausgeleuchteten Reithalle. Bunte Graffiti an den Wänden, Projektionen auf Stoffbahnen, die an Leichentücher erinnern. Abgrundfinstere Mitte des Projekts sind die vier Sätze von Schuberts „Tod und das Mädchen“-Streichquartett, auf Kammerorchester-Größe angepasst und mit anderer Musik ummantelt.

Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja in einer neuen Rolle
Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja in einer neuen Rolle © Lukas Fierz

Doch den leicht morbiden Wiener Gemütlichkeits-Klischees, die Schuberts Musik oft begleiten und sie schlimmstenfalls verharmlosen, gibt diese ruppige Version nicht den Hauch einer Chance. Kopatchinskaja & Co. schrubben schon den Beginn des Kopfsatzes ziemlich garstig herunter und bleiben bei dieser Linie. Die Wut soll gefälligst in jedem Takt zu hören sein. Eine extreme Stück-Sicht, die nicht gefallen will. Im zweiten Satz, in dem Schubert seine Lied-Komposition variierte, nimmt sich das Ensemble weit zurück, hier werden die Linien mit viel feinerem Pinsel gezogen.

Gestorben werden muss ja immer, doch selten wurde diese Erkenntnis so drastisch vertont wie um 1611 vom Renaissance-Komponisten Carlo Gesualdo in seinem Madrigal „Moro, lasso“, mit Harmonie-Reibungen, deren Schmerzzustände ein Streichquintett voll ausreizt. Absurde Gegenstücke aus der Gegenwart sind zwei Miniaturen von György Kurtág. Sie verweisen, von zwei Celli ins Halbdunkel gespielt, auf Charles Ives’ existenzielle Fragestellung und auf die Weltverzweiflung eines Franz Kafka, mit Kopatchinskaja als Engelsgestalt an der Celesta oder wie besessen ihr Hauptinstrument bearbeitend. Ein Spiel über Leben und Tod. Ganz großes Kino.

Info: „Weiße Rose“ ist, zusammen mit einer Making-of-Dokumentation, auf www.staatsoper-hamburg.de zu sehen. Der NDR sendet den Film am 22.5. um 22.30 Uhr. „Der Tod und das Mädchen“ ist bis 15.5. auf elbphilharmonie.de kostenlos abrufbar. Album: „Death and the Maiden“ P. Kopatchinskaja/St. Paul Chamber Orchestra (alpha, CD ca. 18 Euro)