Hamburg. Vor einem Jahr kam es wegen Corona zur ersten Schließung der Kultureinrichtungen. Eine Erinnerung an sehr besondere Tage in der Stadt.

Es ist kurz nach 20 Uhr, als Christoph Lieben-Seutter am 12. März 2020 die Bühne im Großen Saal der Elbphilharmonie betritt. Normalerweise würde er an diesem Konzertabend nicht das Wort ans Publikum richten. Aber heute ist alles anders. Umwälzend anders sogar, auch wenn sich die ganze Dimension der Ereignisse erst in einigen Monaten zeigen wird.

Was in diesen Stunden bereits ins Auge fällt, ist die Zurückhaltung des sonst begeistert strömenden Publikums: Die Garderoben im 11. Stock des Konzerthauses sind nur noch zur Hälfte gefüllt, im Saal selbst gibt es große Lücken in den Zuschauerblöcken. Die Angst vor dem sich rasant ausbreitenden Coronavirus ist überall in der Stadt spürbar, auch an den Orten der Kultur.

Mehldau spielt letztes Elbphilharmonie-Konzert

Es sei „ein berührender, seltsamer Moment“ sagt Lieben-Seutter bevor er das Trio des amerikanischen Jazzpianisten Brad Mehldau ankündigt. Alle hier versammelten wissen in diesem Moment bereits: Es ist vorerst der letzte Konzertabend in diesem Haus.

Am nächsten Tag wird es geschlossen, ebenso wie das Deutsche Schauspielhaus, das Thalia Theater, die Laeiszhalle, die Hamburgische Staatsoper und Kamp­nagel. Die Gesundheitsbehörde hatte kurz zuvor eine Allgemeinverfügung erlassen und Veranstaltungen mit einer Teilnehmerzahl ab 1000 Personen ab dem 13. März verboten.

Der US-Pianist Brad Mehldau spielt im Großen Saal der Elbphilharmonie.
Der US-Pianist Brad Mehldau spielte das vorerst letzte Konzert der Elbphilharmonie vor dem Corona-Lockdown. © Daniel Dittus | Unbekannt

„Es ging plötzlich alles wahnsinnig schnell“, erinnert sich Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard. „Drei Tage lang war ich in einer Dauerkonferenz mit den Leitungen der anderen Häuser, aber niemand konnte sich vorstellen, dass wir alle wirklich schließen müssen.“

Wegen Corona herrschte „Untergangsstimmung“

Tatsächlich denkt man noch über Kapazitätsreduzierungen nach, als aus dem Hamburger Rathaus die Verfügung kommt und damit auch die Frage im Raum steht, was am letzten Abend geschehen soll. „Es gab Mitarbeiterinnen im Haus, die der Meinung waren, dass wir sofort alles absagen sollten, aber die Vorbereitungen für den syrischen Basar „Revolutionary Souq“ waren so aufwendig, den wollte ich wenigstens noch eröffnen.“

Angesichts der pandemischen Bedrohungslage herrscht in diesen Stunden „eine Art Untergangsstimmung“, doch als nach Ende der Veranstaltung alle Türen geschlossen werden, geht man mit dem Gefühl auseinander, „dass das nicht so lange dauern wird“. An den folgenden Morgen erinnert sich Amelie Deuflhard noch sehr genau: Als sie wie üblich ins Büro kommt ist der komplette Trakt, in dem sie arbeitet und in dem normalerweise das Leben tobt, verwaist. Alle sind zu Hause geblieben. Die Welt hat sich verändert.

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Weniger hart ist der Schnitt in der Markthalle, die zunächst noch nicht schließen muss. Hier hofft man, dass sich die Krise mit verstärkten Hygienemaßnahmen bewältigen lässt. Man bringt wie in der Elbphilharmonie Schilder mit Tipps zur „effektiven Handreinigung“ an, verweist am 11. März auf seiner Facebook-Seite unter anderem auf die Leistungsfähigkeit der Belüftungsanlage und darauf, dass das Sicherheitspersonal Handschuhe trage. Einen Tag später werden Besucher gebeten, ihre Email-Adressen zu hinterlassen, um eine Kontakt-Nachverfolgung zu gewährleisten. Aber da kippt die Stimmung bereits.

Plötzlich untersagt Hamburg alle Kulturveranstaltungen

Zwar kommen noch 520 Fans zum schweißtreibenden Auftritt der finnischen Monster-Metalband Lordi, doch längst nicht mehr jeder, der eine Karte gekauft hatte, nutzt sie auch. „Ich wäre dafür, die Konzerte abzusagen“, schreibt eine Facebook-Nutzerin. „Es geht hier bei dem Besuch ja nicht nur um die Gesundheit der Gäste, sondern man hat auch eine Verantwortung für sein Umfeld.“

Der Auftritt der Led-Zeppelin-Coverband Physical Graffiti findet am 13. März zwar noch statt, aber die Reihen im Publikum sind bereit stark gelichtet. „Die Stimmung im Haus war sehr verhalten, sagt Markthallen-Geschäftsführer Mike Keller.

Ein Bild aus vor-coronären Zeiten, als Nähe noch ungefährlich war: Intendant Joachim Lux (Thalia Theater) und Intendantin Amelie Deuflhard (Kampnagel).
Ein Bild aus vor-coronären Zeiten, als Nähe noch ungefährlich war: Intendant Joachim Lux (Thalia Theater) und Intendantin Amelie Deuflhard (Kampnagel). © Unbekannt | Marcelo Hernandez

Schon im Februar hatten erste Bands ihre Tourneen abgesagt, jetzt geht es Schlag auf Schlag. Zwar wird am Sonnabend noch für die traditionelle „Return of the Living Dead“-Party aufgebaut, doch gegen 17 Uhr kommt das „für alle irgendwie auch erlösende Aus“. Hamburg verbietet sämtliche Kulturveranstaltungen. „Wir haben abgeschlossen“, erinnert sich Keller, „und sind um 20 Uhr alle nach Hause gegangen.“

Zu diesem Zeitpunkt ist in den Musicalhäusern längst der letzte Vorhang gefallen; die Privattheater hatten teilweise noch gespielt, an diesem Wochenende ist auch für sie Schluss. Nach der Premiere von „Leonce und Lena“ am Ernst Deutsch Theater am Donnerstag gibt es am Freitag sofort die die letzte Vorstellung der Produktion. Auch hier blicken alle Beteiligten in eine ungewisse Zukunft.

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Was folgt ist eine Absagen- und Verlegungslawine – vor allem Konzerte werden in den Frühsommer, in Ausnahmefällen auch schon in den Herbst 2020 verschoben. Bis dahin ist die Pandemie vorbei, da sind sich viele sicher.

Doch als Pianist Brad Mehldau am 17. Oktober tatsächlich wieder in der Elbphilharmonie auftritt, blickt er erneut auf nur locker gefüllte Ränge. Gespielt werden darf seit einigen Wochen wieder, jedoch nur vor wenig Publikum, mit großem Abstand. Und wie wir inzwischen wissen, ist das noch nicht das Ende der Geschichte...