Christian Kracht erzählt in seinem neuen Roman „Eurotrash“ von einem Schriftsteller namens Christian Kracht – und dessen Familie.
Christian Kracht, der große Christian Kracht, ein Solitär eigenen Rechts, hat einen neuen Roman geschrieben. Er heißt „Eurotrash“. Das ist zum einen der beste Romantitel der Saison, zum anderen schlagender Beweis für die Humorfähigkeit des 1966 in Saanen geborenen Schweizer Schriftstellers.
Der Eurotrash, das ist die Literatur selbst, die sich hinter dem Titel verbirgt: Dieser neue Roman ist aber viel hintersinniger, als man denken könnte. Und es ist die Familiengeschichte, die vor den Leserinnen und Lesern ausgebreitet wird: die einer deutschen Sippe mit Nazi-Hintergrund, die ihre Verstrickung nie aufarbeitete und in den nachfolgenden Generationen zwischenmenschliche Dysfunktionalität und lebensweltliche Unbehaustheit hervorrief. Genealogischer Eurotrash.
Erzähler heißt wie Schriftsteller: Christian Kracht
Den Schriftsteller und die Erzählstimme sollte man nie verwechseln. Oberste Germanistenregel. Die Gefahr besteht derzeit auch nicht. Es ist allerorten die Rede vom „autofiktionalen Erzählen“. Der Romanleser von heute weiß also, dass die Autorin oder der Autor, mit der oder dem er es zu tun hat, sich Plot-mäßig an der eigenen Biografie entlanghangelt, aber dabei romanhafte Szenen entwirft. Viele schreiben derzeit so. Nabelschau ist en vogue.
In „Eurotrash“ treffen wir auf einen zunächst schlecht gelaunten Erzähler namens Christian Kracht, der, seine Mutter will ihn „dringend sprechen“, nach Zürich muss. Mit dieser Mutter, einer tablettensüchtigen Alkoholikerin, wird Kracht später auf eine Art Roadtrip aufbrechen, auf dem sich beide in allerlei Gereiztheiten ergehen werden und kursorisch das – wahrscheinlich immer schon, denkt man sich als Leser – demolierte Mutter-Sohn-Verhältnis wenn nicht aufarbeiten, so doch zumindest allzu bewusst durchexerzieren. Bevor die Hauptfigur aber auf ihre Mutter trifft, legt sie Zeugnis nicht nur von deren angeblicher Verrücktheit ab, die vor allem „krank auch im Kopf“ sei, sondern auch vom „Zerfall dieser Familie, ja, [der] Atomisierung dieser Familie“.
Nazi-Großvater in Kampen auf Sylt
Das vom betrunkenen Hinfallen zerstörte Gesicht der beim bis dato letzten Aufeinandertreffen 80-jährigen Mutter? Ein „durch das verbeulte Zickzack der mit dunklem Faden vernähten Platzwunden“ gezeichnetes Antlitz, „die Abwärtsbewegung, die Talfahrt dieser Familie als Landkarte ihres Gesichts, wenn man das so sagen kann“. Es ist eine formvollendete Abrechnung mit den Seinen, die tief zurückgeht an die Wurzeln.
Da war zum Beispiel der Nazi-Großvater, der Vater der zu Tode erkrankten Mutter, der in hoher Funktion für die Propagandaabteilung arbeitete und nach dem Krieg („nach der leider vollkommen erfolglos verlaufenen Entnazifizierung im britischen Internierungslager Delmenhorst-Adelheide“) unbehelligt blieb und in Kampen auf Sylt residierte. Mit einer versteckten Sadomasokammer. Von der wusste der Vater des Erzählers, Christian Kracht (senior), mutmaßlich nichts. Trotzdem wohnte der mit der Familie bei Sylt-Trips stets ein paar Häuser weiter, in Richtung Düne, in Axel Springers Haus. Weil er seine Schwiegereltern, die Nazis, immer gehasst habe.
Ein Buch mit sensationellem Anfang
Kracht, der Jüngere, berichtet in „Eurotrash“, er habe dort als Kind nachts immer ins Waschbecken des Dachzimmers uriniert, in dem er untergebracht war, wenn er zu faul war, auf die Toilette zu gehen. Den allmählich sich einstellenden Gestank des Waschbeckens habe er unter anderem mit Herrenparfüm beizukommen versucht: „Ich hatte Angst, daß Axel Springer meinen Vater hinauswerfen würde, wenn es herauskam, daß ich immer in sein Waschbecken gemacht hatte.“
„Eurotrash“ ist ein wahnsinnig komisches Buch, wahrscheinlich das komischste seit langer Zeit. Ein Buch mit fulminantem, sensationellem Anfang; das erste Viertel dieser knapp 200 Seiten ist das literarisch Beste, was Kracht in seiner jetzt auch schon ein Vierteljahrhundert währenden Karriere geschrieben hat.
Vom Vater wird vergleichsweise milde erzählt
Er erzählt, nicht unkritisch, aber im Vergleich zur Mutter milde, von seinem Vater, dem Altonaer Taxifahrersohn, frühen Springer-Mann, Verlags-Generalbevollmächtigten und stinkreichen Kunst- und Villensammler, dessen Asche vor Finkenwerder in der Elbe verstreut worden sei.
Und von seiner eigenen Kindheit; dem Aufwachsen in der Schweiz, umgeben von Nachbarn wie David Bowie. Der Vater – eine Episode schildert ihn als hartherzigen Big Player, der beim Diner mit Franz-Josef Strauß seine trunksüchtige Gattin im Auto warten lässt – habe wohl eine Affäre mit Inge Feltrinelli gehabt, der italienisch-deutschen Verlegerin, heißt es einmal. Vor der Provinzialität, seiner einfachen Herkunft sei er immer geflüchtet. Die Mutter dagegen, um die es weitaus mehr geht, sei mit elf in Itzehoe von einem Fahrradhändler mehrere Male vergewaltigt worden: Das wären dann zwei sehr unterschiedliche Ausgangspunkte für spätere Lebenswege.
„Eurotrash“ ist allerbester Zitatpop
Was bedeutet das nun alles? All die Realien, die Namen echter Personen, es sind doch einige, auf die man in „Eurotrash“ stößt? Der Schüler Christian Kracht will als Siebenjähriger seine Grundschule in Gstaad angezündet haben, „fast ein halbes Jahrhundert ist es her, strahlende, europäische Welt“. Dass man Kracht ganz grundsätzlich (und im Hinblick auf die Güte seiner Romane gottlob!) nicht trauen kann, zeigt nicht alleine der Gestus der Ironie und das Zitieren Thomas Manns und Stefan Zweigs; „Eurotrash“ ist allerbester Zitatpop mit unzähligen Anspielungen.
Der Erzähler berichtet in „Eurotrash“ vom sexuellen Missbrauch auf einem kanadischen Internat. Wie seine Mutter sei er damals elf Jahre alt gewesen. Kracht ist 1966 geboren: Diese Stelle ist somit der deutlichste Hinweis, dass sich der Roman künstlerische Freiheiten gestattet, dass es zu Übermalungen der Realität kommt. Nichts ist ganz ausgedacht, aber gar nichts wirklich wahr. Vor drei Jahren, bei seiner Frankfurter Poetikvorlesung, erzählte Kracht seinem Publikum von nämlichem Missbrauch durch einen Pastor.
Kracht ist in autobiografischer Phase angekommen
Der späte Kracht ist, so scheint es, in der autobiografischen Phase seines Schaffens angekommen. Das ist bemerkenswert für jemanden, der als Meister vor allem der schnöseligen Selbstinszenierung immer auch an der Verrätselung der eigenen Person interessiert war. Im als defizitär empfundenen Familien-Tableau interessiert er sich auch für die eigene Person, freilich ganz ohne den Drang nach Selbstbefragung Knausgardscher Prägung.
Als „Eurotrash“ im vergangenen Jahr vom Verlag angekündigt wurde, zielte die PR gleich auf Krachts vor 25 Jahren erschienenes, großartig verschattetes Debüt „Faserland“, in dem ein derangierter Hedonist durch ein sinnentleertes Deutschland in Richtung Zürich reist. Schon der erste Satz von „Eurotrash“ („Also, …“) zitiert „Faserland“, dazu das diesmal beinah durchdeklinierte Nazi-Thema, der galoppierende Ekel, bevorzugtes Ziel diesmal: die Schweiz und Zürich („Die Stadt der Angeber, der Aufschneider und der Erniedrigung“). Es geht, meist ex negativo, auch wieder um Geschmacksurteile, Labels und die feinen Unterschiede.
Kracht spielt mit der eigenen Person
Krachts Spiel mit der eigenen Autoren-Persona, dem Mythos „Faserland“ – das Buch gilt zu Recht, horribile dictu, als „Kultroman“ – ist nicht allzu subtil. Nach seiner Ankunft in Zürich kauft er sich keine Edelklamotten in der Boutique, sondern an einem von Kommunarden betriebenen Stand einen Wollpulli.
Die Mutter hat noch ein Foto von ihm mit Barbourjacke in ihrer Wohnung stehen, außerdem sei, so der Erzähler, „Faserland“ („Und so hatte ich dieses Buch dann auch geschrieben, abends, in meiner Einzimmerwohnung in Hamburg-Ottensen, während ich mich von Pizza-Baguette zum Aufbacken und Toastbrot mit Kühne-Senf und Ravioli aus der Dose ernährte“) lediglich eine Gaukelei von einem, der eben nur angeblich „wohlstandsverwahrlost“ sei und aus gutem Hause käme. Ist dem also etwa nicht so? Und wer ist dann eigentlich der Erzähler von „Eurotrash“? Wieder nur eine Erfindung? Was für eine famose Dynamik zwischen dem Auslegen und Verwischen von Spuren!
Auch „Eurotrash“ trieft nur so vor Ironie
Außerdem räumt da dann einer rustikal die Vorstellungen ab, die sich Feuilleton und Literaturforschung von einem Roman gemacht haben. Vielleicht, weil Kracht, dem 2012 bei Erscheinen von „Imperium“ allen Ernstes Rassismus vorgeworfen wurde, immer schon ein auch heiterer Schriftsteller war, der bloß nicht zu ernst genommen werden wollte.
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Auch „Eurotrash“ trieft vor Ironie, vor allem ist es ein faszinierender Kommentar des Autors zu seinen Büchern, eine Selbstverortung als Geschichtenerzähler: Später, als er mit seiner Mutter auf einer wie ein Traum anmutenden Fahrt durch die Schweiz und die Familienlegende ist, unterhält er diese mit absurd sinnlosen Geschichten. Wer erzählt, ist immer in Bewegung, nie greifbar. Aber es kann gar nicht anders sein, als dass hinter der Deutschlandwut im Gesamtwerk und den ständigen Ausweichmanövern in die Welt – Kracht lebte länger in Asien und zuletzt in Los Angeles – und die zumindest teilweise geliebte Schweiz nicht auch ein Moralist steckt.
„Eurotrash“: Spiel mit der Wirklichkeit
In seinem neuen Roman spielt Kracht über weite Teile ein federleichtes Spiel mit der Wirklichkeit: ein Vexierspiel, in dem sich Sohn und Mutter näher kommen. Das Ende ist herrlichster Kitsch, übrigens, soll hier aber nicht weiter interessieren. Der Roadtrip führt Mutter und Sohn in manch kuriose Situation. Dass sich Kracht, der mit seiner Ehefrau, der Hamburger Filmemacherin Frauke Finsterwalder, eine Tochter hat, nicht nur die penetrante „Faserland“-Spiegelei ebenso erlaubt wie die kokette Selbstmarginalisierung durch das Aufrufen von Bestsellerautoren wie Daniel Kehlmann, darf man erzählerische Courage nennen.
Sicher, es wirkt in den literarisch weniger ambitionierten Passagen – es gibt viele Dialoge – manches eher wie aus dem Drehbuch einer Komödie. Aber nicht allein für Kracht-Fans, die in den Texten des Meisters literarische Schnitzeljagden unternehmen, dürfte „Eurotrash“ eines sein: Sein bestes Buch seit „Faserland“. Mindestens.