Hamburg. Bestsellerautor Benedict Wells hat einen neuen Roman geschrieben. Was daran erwartbar ist und warum sich die Lektüre doch lohnt.

Missouri! 1985! Und: Benedict Wells! Das gehört alles zusammen, das passt, das überrascht nicht. Literarische Zeitreisen haben selten solch eine bestechende Logik wie die, die der 1984 in München geborene Autor in seinem jetzt erscheinenden Roman „Hard Land“ unternimmt.

Ja, genau: „Hard Land“. Der englische Titel muss eh sein, wo hier doch die vollendete Hommage an den 1986 in die Kinos gekommenen Film Stand by Me“ das handwerkliche Ziel ist. Wells, der seinen ersten Roman im Alter von 19 Jahren schrieb – „Spinner“ erschien 2009 aber erst ein Jahr nach „Becks letzter Sommer“ – und früh zum Bestsellerautor avancierte, hat in seinen Büchern immer die Lebenswelten jugendlicher Helden ausgelotet.

Vater, Schwester und Cousin sind alle Schriftsteller

Damit hat er besonders mit seinem bislang letzten Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ viel Beachtung erfahren. Er wurde in sage und schreibe 37 Sprachen übersetzt. Das ist besonders für einen deutschsprachigen Roman ein gewaltiger Erfolg. Bücher aus Deutschland, der Schweiz und Österreich gelten, leider oft nicht zu Unrecht, als schwere Kost. Bei Benedict Wells, dessen Vater Richard von Schirach ebenso Schriftsteller ist wie seine Schwester Ariadne von Schirach und sein Cousin Ferdinand von Schirach, lag diese Gefahr der erzählerischen Verkomplizierung nie nahe. Sein Vorbild ist erklärtermaßen John Irving.

Und so ist der neue Wells dann auch ein unbedingt international anschlussfähiger Coming-of-Age-Roman, der zwar auch popkulturell in den 80ern spielt, aber in seinen Grundaussagen nichts weniger als zeitlos ist. „Hard Land“ ist die Huldigung eines Genres, das filmisch mit „Stand by Me“ zur Blüte reifte, und deshalb ergibt die Ansiedelung in einer öden amerikanischen Kleinstadt namens Grady im Jahr 1985 unbedingt Sinn.

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Dort lebt der 15-jährige Sam das Leben eines zurückhaltenden, von Angstattacken geprägten Jugendlichen. Das ist, noch vor dem Gegenteil, dem Superheldentum, das bestmögliche Identifikationsmodell: der angreifbare, nicht perfekte, unsichere Mensch. In den Sommerferien, die zunächst wie ein langes, quälendes Intermezzo im ganz normalen Highschool-Alltag vor ihm liegen, wird für Sam alles anders. Er fängt an, im örtlichen Kino zu arbeiten. Allein das schon wieder: herrlichstes Hommage-Manöver. Sam wird, natürlich, „Zurück in die Zukunft“ sehen.

Er findet endlich die Freunde, die den Unterschied machen: Sie arbeiten mit ihm im Kino. Cameron, der bisexuelle Sohn eines schwerreichen Unternehmers. „Hightower“, der Football-Star und farbige Adoptivsohn eines weißen Farmers. Sein Auto heißt „Bruce-Mobil“, weil dort ausschließlich Songs wie „My Hometown“ und „New York Serenade“ gehört werden. Und natürlich Kirstie Andretti, die Tochter des Kinobetreibers. Sie weckt schnell das Liebesinteresse des Helden, der jedoch immer weiß, dass den süßen Früchten der puren Gegenwart die Fäulnis der nahen Zukunft innewohnt.

Wells setzt innere Hitze und äußere Abkühlungen in Szene

Seine drei neuen Bekanntschaften, die ihn zuerst zögerlich, dann umso konsequenter in ihren Kreis aufnehmen, werden schon nach den Ferien Grady verlassen, um aufs College zu gehen. Es wird im Verlauf der Handlung, es wundert einen wirklich gar nicht, den Abschluss einer Freundschaft geben, wie wir sie im Kino, wo dann stets eine Erzählstimme die Bilder begleitet, so oft und immer herzzerreißend erleben, einen Abschluss, der niemandem vollends bewusst ist: „Danach starrten wir wortlos in die Nacht. Und das war das letzte Mal, dass wir alle vier zusammen waren.“

Es ist aber nicht die Magie der letzten, sondern der ersten Male, die Sams Sommer erfasst. Wells setzt die innere Hitze und die äußeren Abkühlungen – natürlich schenkt ihm Kirstie nicht ohne Weiteres ihr Herz – ausführlich und gekonnt in Szene. Es ist das lebendige und beinah unmittelbare Bewusstsein des Heranwachsenden, das zur Leserin und zum Leser spricht. Dass Sam ein Wiedergänger des ewigen Holden Caulfield ist, wird mit dem „Fänger im Roggen“- Name­check gleich am Anfang geklärt. Wie überhaupt Wells’ Roman, der sich auf reizvolle Weise mit dem Thema Intertextualität auseinandersetzt, ziemlich deutlich ist. Der erste Satz lautet nämlich: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“

Stimmt schon: Einiges ist erwartbar, manches Klischee

Zur Sensation der ersten Liebe und zu den Zelebrationen der Freundschaft – der auch sprachsensible Sam erfindet für jene ambivalenten Gefühlswelten den Begriff „Euphancholie“ – kommt also die existenzielle Erfahrung des Verlusts. Die Bürde, die mit der Zugehörigkeit zu einer Familie einhergeht, schwierige zwischenmenschliche Beziehungen, in diesem Fall mit dem distanzierten Vater und der abwesenden Schwester, werden ebenfalls in „Hard Land“ behandelt.

Stimmt schon: Vieles ist bei einem so häufig beackerten Feld wie dem jugendlichen Bildungsroman erwartbar, und manches auch sprachliche Klischee („Trauer ist kein Sprint, Trauer ist ein Marathon“) unterläuft Wells durchaus. Und dennoch ist „Hard Land“ insgesamt fast genauso treffsicher auf Nostalgie angelegt wie die TV-Serie „Stranger Things“, nur halt ohne Monster. Eine Feier der einst von den amerikanischen Meistererzählern Stephen King und Steven Spielberg so klassisch porträtierten Jugend, in dem alles Erleben unverfälscht und intensiv ist.

Benedict Wells: „Hard Land“. Diogenes. 338 S., 24 Euro