Hamburg. Neumeier spricht über das neue Hygienekonzept, ausverkaufte Vorstellungen und seinen persönlichen Umgang mit der Pandemie.
In seinem lichtdurchfluteten Büro im Ballettzentrum an der Caspar-Voght-Straße sitzt ein sichtlich gut gelaunter John Neumeier. Seine „Ghost Light“-Premiere war ein großer Erfolg und jetzt gibt es auch eine positive Nachricht für die gesamte Compagnie. Dabei spielen wöchentliche Coronatests eine zentrale Rolle.
Herr Neumeier, in Ihrer Compagnie gibt es mehrere Paare, die verheiratet oder liiert sind und deshalb trotz Corona ohne Abstand miteinander tanzen können. Können Sie also zufrieden sein?
John Neumeier: Nein, denn das reicht nicht aus. Als klar wurde, dass die Corona-Situation länger bestehen bleiben würde, habe ich deshalb das Gespräch mit dem Amt für Arbeitsschutz, der Unfallkasse und dem Betriebsrat gesucht, um herauszufinden, ob es nicht einen Weg gibt, die Proben- und Aufführungsbedingungen zu erweitern.
Mit welchem Ergebnis?
John Neumeier: Es gibt ja das Beispiel der Salzburger Festspiele, wo mit Hilfe von 3600 Corona-Tests sehr große Produktionen auf die Bühne gebracht wurden, ohne dass es Ansteckungen gegeben hat. Vor diesem Hintergrund bin ich sehr froh, dass auch wir jetzt eine innerbetriebliche Einigung gefunden haben, die es uns ermöglicht, ein neues Hygienekonzept zu realisieren – beratend unterstützt von Professor Ansgar Lohse, dem Direktor der I. Medizinischen Klinik und Poliklinik am UKE. Dieses Konzept sieht unter anderem vor, einmal in der Woche die gesamte Compagnie auf Corona zu testen.
Und dann müssen keine Abstände mehr eingehalten werden?
John Neumeier: So ist es, aber wir setzen dieses Konzept mit großer Vorsicht um und es war ohnehin nie meine Vorstellung, dass wir alle zusammen in den Saal laufen und uns umarmen. Worum es mir insbesondere geht, ist, die Ungerechtigkeit zu beenden, dass Paare in der Compagnie während der Pandemie alles tanzen dürfen, während Tänzerinnen und Tänzer, die zwar auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, aber nicht mit jemandem innerhalb der Gruppe liiert sind, außen vor bleiben müssen. Stellen Sie sich das mal vor: Man darf in einem Sportverein miteinander ringen, aber Hélène Bouchet und Alexandr Trusch können keinen Pas de deux tanzen. Das leuchtet mir nicht ein.
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Bilden Sie also je nach Choreografie kleine Infektionsgemeinschaften?
John Neumeier: Nein, das ginge nur, wenn wir ein Stück nach dem anderen durchspielen würden, wir sind aber eine Repertoire-Compagnie. Das heißt, wir spielen drei Tage „Ghost Light“, dann den „Tod in Venedig“, dann die Matthäus-Passion, dann wieder „Ghost Light“. Da müssen sich die Tänzerinnen und Tänzer mischen können. Deshalb die wöchentlichen Tests. Trotzdem: Durch feste Besetzungen und detaillierte Tagespläne kann man Infektionsketten nachverfolgen, denn in einem bestimmten Ballett tanzen immer die gleichen Partner als Paar.
Wie stehen die Tänzerinnen und Tänzer zu dem Konzept?
John Neumeier: Sie haben einen Brief an den Betriebsrat geschickt, in dem steht, dass sie alle gern diesem Konzept folgen würden. Wissen Sie, wenn man gemeinsam eine Choreografie erarbeitet, dann entsteht eine Verbundenheit, ein tiefes Vertrauen zueinander. Deshalb bedeutet mir dieser Brief so viel: Ich weiß, dass alle, die unterschrieben haben, es auch wirklich so meinen.
Es gibt also keine Mitglieder der Compagnie, die in Sorge sind und lieber alles so belassen würden, wie es ist?
John Neumeier: Nun, bei einer Versammlung der Compagnie gab es enthusiastische Zustimmung, aber natürlich kann es sein, dass es sich jemand später anders überlegt. Ich habe dafür Verständnis. Wenn jemand dem Konzept nicht folgen und sich auch nicht testen lassen möchte, dann wird er oder sie so eingesetzt wie bisher. Wir hatten schon vergleichbare Situationen: Als wir im Februar auf Tour nach Singapur und Macao gehen wollten und Corona dort bereits eine Rolle spielte, wollten fünf Tänzerinnen und Tänzer nicht mitfahren. Das war für mich völlig in Ordnung. Oder, viel weiter zurück: 1974 sind Hamburgische Staatsoper und Hamburg Ballett nach Israel gereist, drei Tänzer hatten zu der Zeit Angst, in eine Chartermaschine nach Israel zu steigen. Auch damit hatte ich kein Problem. Ich kann eine Choreografie verantworten, aber ich kann niemandes Sicherheit umfassend garantieren.
Ändert sich durch das neue Hygienekonzept das aktuelle Programm des Hamburg Ballett an der Staatsoper?
John Neumeier: Nicht für die nächsten drei Monate, aber ich kann mir jetzt konkrete Gedanken über das Programm ab Januar machen. Dabei geht es nicht nur um das Ballett, sondern auch um das Orchester. Ich gehe davon aus, dass wir mehrere Werke mit Musik vom Band aufführen müssen, denn unsere neue Vereinbarung schließt ja nicht das Philharmonische Staatsorchester ein. Und die 5. Sinfonie von Gustav Mahler lässt sich eben mit der derzeit erlaubten geringen Anzahl von Musikern nicht live spielen.
Vom Spielplan zum Publikum: Manche Häuser und Veranstalter tun sich derzeit schwer, alle verfügbaren Karten zu verkaufen. Das Publikum ist noch zurückhaltend. Wie sieht es beim Hamburg Ballett aus?
John Neumeier: Bei uns läuft es hervorragend. Alle Vorstellungen von „Ghost Light“ sind ausverkauft, selbst die, die erst im November stattfinden – auch auf unserer Herbsttournee nach Baden-Baden. Derzeit sind erst wieder Karten für den 19. Juni 2021 zu bekommen. Und das Ballett „Tod in Venedig“, das wir ab 29. Oktober tanzen, ist auch schon ausverkauft.
Wenn das Interesse so groß ist, denken Sie dann an Zusatzvorstellungen?
John Neumeier: Das Hamburg Ballett ist zwar eigenständig, bewegt sich aber im Rahmen der Staatsoper. Ich muss also mit meinen Opernkollegen besprechen, ob sich zusätzliche Termine finden lassen. Wir haben schon überlegt, ob sich beispielsweise mal an einem Sonntag eine Doppelvorstellung realisieren ließe. In der nächsten Zeit geht das leider nicht, aber im Dezember sind drei weitere Vorstellungen von „Ghost Light“ geplant.
Während dieser Krise wird vor allem über die negativen Aspekte gesprochen. Gibt es für Sie auch Positives?
John Neumeier: Eigentlich nicht, außer dass wir jetzt spontaner sein können. An einem Opernhaus wird alles jahrelang im Voraus festgelegt – was mich verrückt macht, denn in einer Ballett-Compagnie ist sehr viel Dynamik und Bewegung. Tänzerinnen und Tänzer entwickeln sich; wenn man zu weit vorausplant, kann es sein, dass man dann für das Ensemble das falsche Stück zur falschen Zeit hat. Insofern ist „Ghost Light“ ein positiver Aspekt der Coronazeit, denn diese Kreation ist spontan aus der Situation heraus entstanden.
Und wie geht es Ihnen persönlich? Machen Sie sich Sorgen über Ansteckungsrisiken, wenn Sie mit Ihren Tänzerinnen und Tänzern arbeiten?
John Neumeier: Darüber denke ich gar nicht nach. Ich bin vorsichtig, aber ich bin nicht ängstlich.