Hamburg. In der Staatsoper: John Neumeiers Choreografie „Ghost Light“ ist eine berührende Reaktion auf die Zeit der Corona-Beschränkungen.

Es brennt bis zum Schluss, das funzelige Licht einer nackten Glühbirne. Geradezu trotzig reckt es sich auf einem Metallständer in der Mitte der Staatsopern-Bühne empor. In der Broadway-Tradition bedeutet eine brennende Glühbirne, dass die Bühne tabu ist für jede Tätigkeit – eine Gewerkschaftsauflage, damit im Dunkeln keiner stolpert. Um dieses Licht herum geschieht jedoch sehr viel an diesem Premierenabend in der Staatsoper mit der Uraufführung von John Neumeiers neuer Kreation „Ghost Light. Ein Ballett in Corona-Zeiten“.

Es sei nicht geplant gewesen, sagt er in einer kurzen Bühnenansprache vor dem pandemiebedingt ausgedünnten Saal, aber es habe dann doch auf die Bühne gedrängt.

John Neumeier hat sich um Choreo, Licht und Kostüme gekümmert

„Ghost Light“, bei dem sich John Neumeier neben der Choreografie auch um Bühne, Licht und Kostüme gekümmert hat, ist ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Ballettabend. Den Tänzerinnen und Tänzern gewidmet, zeugt er von Neumeiers Liebe zu seiner Compagnie. Der Abend ist purer Tanz, reduziert auf den Wesenskern. Körper im Raum. Hingabe an die Schönheit der Bewegung. Er zeigt den Menschen auch als Tanzenden zurückgeworfen auf das nackte Selbst. Ganz existenziell. Gleichzeitig ist „Ghost Light“ in der Reduktion sehr modern, fast introspektiv.

Christopher Evans wirkt mit seinem schwarzen Unterhemd wie ein Bühnenarbeiter, er trägt einen Stuhl auf die bis auf das Geisterlicht und eine rückwärtige Wand leere Bühne. Streckt die Arme aus, als wolle er die Welt umfassen. Eine zarte, aber gewaltige Geste. Im Graben schlägt Michal Bialk am Flügel die ersten filigranen Takte der Moments Musicaux D 780 von Franz Schubert an.

Auch Félix Paquet hat etwas Verlorenes, wenn er sich auf einem anderen Stuhl wirft, als wäre er verdammt zum Warten auf die nächste Vorstellung, von der niemand weiß, wann sie kommt. Schließlich entlädt sich die Ungeduld in dynamischer Bewegung. In den wendigen Aleix Martínez hat sich die Verarbeitung der Pandemie geradezu körperlich eingeschrieben. Die Hand zittrig, knallt er auf den Boden, erhebt sich über seinen Spann und kommt wieder in den Stand.

Ghost Light“ verarbeitet den Lockdown

„Ghost Light“ beginnt mit diesen eindrucksvollen Soli, die von der Belastung durch die Isolation im Lockdown künden, von Ängsten im Angesicht einer gesundheitlichen Bedrohung erzählen. Aber auch von einem Aufbegehren, von einem langsamen Zurückerobern der Bühne. Die gebotene Distanz der Tanzenden ist zu sehen und zu spüren, aber die Beklemmung weicht zum Glück bald synchronen Sprungszenen, die etwas Befreiendes haben. Bis hin zu einigen von Soli immer wieder akkurat durchbohrten Gruppentableaus.

Besonders intensiv geraten die Momente, in denen sich die zahlreichen Paare innerhalb der Compagnie in Pas de Deux begegnen dürfen. Vereint in Eleganz und absoluter Innigkeit und Hingabe tanzen sich Alexandre Riabko im grauen Anzug und Silvia Azzoni in einem rosafarbenen Einteiler ins Zentrum des Abends. Sie umschlingen einander, verbiegen sich, lösen sich, tragen einander gegenseitig. Wunderbar auch David Rodriguez als von Matias Oberlin verfolgtes Liebesobjekt in einem Spiel aus Anziehung, Sehnsucht, Obsession und Flucht.

Im zweiten Teil des Abends geben Franz Schuberts vier Impromptus D 899 den Choreografien noch mehr Raum, sich zu entfalten. Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann bezaubern zu den ausufernden Akkorden des Impromptus Nr. 1 in c-moll mit ausgefallenen Dreh- und Hebefiguren. Zum Impromptus Nr. 2 in Es-Dur gibt die ungeheuer präsente Patricia Friza ein Beispiel ihres virtuosen Könnens.

Ghost Light: Seelen verstorbener Künstler treten auf

Das „Ghost Light“ steht ja auch im Zentrum eines Aberglaubens unter Theaterleuten. Im Halbschatten dieses Lichtes treten die Seelen verstorbener Künstler auf, so die Überzeugung. Folgerichtig schauen an diesem Abend auch ein paar „Geister“ aus dem Neumeier-Repertoire vorbei. Etwa wenn Anna Laudere und Edvin Revazov kostümiert als Marguerite Gautier und Armand Duval aus der „Kameliendame“ auftreten. Oder wenn Emilie Mazon als Marie aus „Der Nussknacker“ die gleichnamige Figur eng umschlungen hält, während sie träumt.

Das ganze 60-köpfige Ensemble ist auf eindrucksvolle Weise eingebunden und wirkt ausgesprochen solidarisch in diesem Abend, der nicht auftrumpfend sondern eher zart und demütig daherkommt, und gerade dadurch eine besondere Magie entfaltet.

„Ghost Light. Ein Ballett in Corona-Zeiten“ weitere Termine 10.11., 11.11., 13.11., 19.6.2021 jew. 19.30, Staatsoper, Karten unter T. 35 68 68