Hamburg. „Kingsbridge – Der Morgen einer neuen Zeit“ erzählt von einer finsteren Epoche. Da wird gemeuchelt und gehenkt und vergewaltigt.
Einen der bekanntesten Orte Englands gibt es gar nicht. Kingsbridge ist Millionen Menschen auf der ganzen Welt vertraut, aber das Städtchen hat Ken Follett für seinen historischen Roman „Die Säulen der Erde“ erfunden. Das Buch wurde zum Welterfolg und ist seitdem auch ein Standard, an dem sich das Genre messen lassen muss – auch der Autor selbst.
Er versucht es nun zum dritten Mal – aber es gelingt nur fast. Ein „Pageturner“, den man nicht weglegen möchte, ist „Kingsbridge – Der Morgen einer neuen Zeit“ dennoch. Und das auf mehr als 1000 Seiten.
Jede Menge Neider und Intriganten
Das Buch ist quasi ein Prequel. Es spielt etwa 140 Jahre vor dem ersten Roman, und diesmal ereignet sich alles nicht in einem knappen Menschenleben, sondern in nur ein paar Jahren: Ein junger Mann muss einen ganz neuen Anfang mit den Resten seiner Familie wagen, und es verschlägt ihn an einen noch brückenlosen Fluss voller Gestalten, die entweder knechten oder geknechtet werden. Zugleich gibt es im Roman noch eine junge Edelfrau, deren entschlossene, aber naive Vorstellungen auf eine Mauer aus Missgunst und Intrige prallen. Und so muss im gewissen Sinne auch sie von ganz unten anfangen. Natürlich verflechten sich die Wege der beiden und natürlich gibt es jede Menge Neider und Intriganten, die ihnen das Leben schwer machen.
„Es war eine finstere Zeit, ob wir es wollen oder nicht“, sagt Follett im Interview. „England hatte damals kein funktionierendes Justizsystem. Und das Buch zeigt, wie elendig die Situation sein kann, wenn man keinen Rechtsstaat hat.“ „Recht“ bekam damals vor allem der Stärkere. Und wenn er es nicht bekam, nahm er es sich einfach. „Es ist keine Zeit, in der ich leben möchte. Besuchen? Gern! Damals leben? Um Gottes willen, nein. Das finstere Mittelalter war schon ziemlich finster.“
Weichen Europas wurden gestellt
Und dennoch heißt das Buch „Der Morgen einer neuen Zeit“, wobei für die deutschen Leser ein „Kingsbridge“ davorgesetzt wurde. „Es war tatsächlich ein Aufbruch damals“, sagt Follett, „die dunkelste Zeit war vorüber und die Gesellschaft machte langsam wieder Fortschritte“. Die Weichen für vieles, was Großbritannien – und selbst Europa – heute ist, wurden damals gestellt.
Erklärt das die Allgegenwart von Sex und vor allem Gewalt auf den gut 1000 Seiten? Da wird gemeuchelt und gehenkt, Männern werden auf dem Marktplatz die Augen ausgedrückt und die Hoden abgeschnitten, Frauen immer und immer wieder vergewaltigt. Leider Alltag damals, sagt Follett. Und für ihn als Schriftsteller ein Spagat: Er wolle ein wahres Bild der Zeit schildern und die Leser natürlich auch in den Roman ziehen, sie aber auch nicht abstoßen. „Wenn sie die Seiten dann überblättern, entweder aus Langeweile oder aus Ekel, habe ich nicht gut gearbeitet.“
Dabei ist Follett ein Arbeiter, der sich redlich für seine Leser müht und sie nie allein lässt oder mit plötzlich auftauchenden Figuren oder unverständlichen Wendungen verwirrt. Er funktioniert aber auch so gut, dass das Buch von einem entscheidenden Punkt etwas zu wenig hat: Esprit, Blut, Lust. Das Buch ist nicht langweilig, auf keiner Seite! Aber den „Säulen der Erde“ merkte man an, dass Follett von Kathedralen fasziniert ist, und das übertrug sich auf das ganze Buch. Im neuen geht es um eine Brücke, eben die Kingsbridge, aber sie ist weniger als eine Randerscheinung.
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Dafür lebt das Buch vom Alltag: Vom täglichen Leben der Zimmerleute, Bauern, Schankwirte und auch der Dirnen und Sklaven. Denn gekrönte Häupter kommen, anders als in Ken Folletts letztem Buch, kaum vor, und so ergibt sich ein faszinierendes, historisch genaues Bild der Zeit von vor einem Jahrtausend.