Hamburg. Ein häufiger Gast in seiner Geburtsstadt: Der Schriftsteller las in der Freien Akademie der Künste aus seinem neuen Buch.

Vielleicht imaginierte manch einer der in Ehren Ergrauten, die hier saßen, Uwe Timm selbst als sturen Bepflanzer der Sandberge an der argentinischen Atlantikküste. Oder gar sich selbst! Die Träume und Visionen, die Pläne und Projekte von einst: eine bessere Welt, eine schönere Form des Zusammenlebens. Utopie nennt man so etwas. Die Utopie ist etwas, das nie klappt, und Utopie heißt sie genau deswegen, weil sie nie Realität wird.

Der große Schriftsteller Uwe Timm („Am Beispiel meines Bruders“, „Rot“), der 1940 in Hamburg geboren wurde, den die Hamburger aber schon vor vielen Jahrzehnten an München verloren haben und den sie trotzdem und deshalb sehr gerne in seiner Geburtsstadt zu Gast haben, ist im März 80 geworden.

Ein Essayband über den utopischen Gedanken

Zum Geburtstag schenkte er sich und seinen Leserinnen und Lesern einen Essayband über den utopischen Gedanken, den unter anderem ein sich an der argentinischen Küste abmühender Idealist namens Carlos Gesell bevölkert. Der Altachtundsechziger Timm stellte Buch und Utopist nun auf dem Harbour Front Literaturfestival in der Freien Akademie der Künste vor. Dass der Band den Titel „Der Verrückte in den Dünen“ (Kiwi Verlag, 20 Euro) trägt, ist Zeichen des Mentalitätswandels. Mochte auch eine Besucherin an einer besonders kapitalismuskritischen Stelle während Timms Lesung enthusiastisch klatschen, so schmunzelt man doch heute über die Gespinste von einst – und erlaubt sich nur anfallsweise nostalgisch Erinnerungen an die Zeit, in der alternative Lebensformen attraktiv waren.

Und Carlos Gesell, jener – nach langem Kampf – Bezwinger des argentinischen Strandes, war übrigens schon in den 1930er-Jahre zugange. Villa Gesell heißt der Badeort, den er gründete und der heute noch existiert. Gefeiert wird dort viel, gekifft, getrunken, freie Liebe betrieben sowieso. Nur letzteres hatte Gesell im Sinn, erzählte Timm seinem Publikum, aber erfolgreich sei er am Ende eben doch gewesen. Vielleicht einfach deswegen, weil er die wandernden Dünen besiegte, irgendwie. Wobei der zu Anfang Sisyphos-mäßige Versuch, den Strand bewohnbar zu machen, die beste Metapher für das ewige Scheitern der Utopisten ist.

Utopisten sind auf ihre Weise auch Geschichtenerzähler

Es war eine kluge Entscheidung von Timm, ausführlich aus dem Gesell-Kapitel zu lesen. Utopisten sind auf ihre Weise auch Geschichtenerzähler, und Uwe Timm, dieser aufmerksame, neugierige, unvoreingenommene Mann, ist in jedem Fall einer. Sein Gesell-Essay ist literarisch geschrieben. Wie überhaupt gilt: „Der Verrückte in den Dünen“ ist kein Pamphlet, sondern eine unterhaltsame Textsammlung.

Ein Reisebuch, in dem Timm, der mit der in Argentinien aufgewachsenen Übersetzerin Dagmar Ploetz verheiratet ist, von vielen Trips nach Lateinamerika berichtet und den utopischen Idealen, die dort ins Werk gesetzt werden sollten und sich etwa bei José Gaspar Rodríguez de Francia (1766– 1840) in eine Diktatur verkehrten. „Mich interessiert“, erklärte Timm Moderator Ulrich Greiner und dem Publikum, „der Moment, in dem aus dem Hoffnungsvollen das Destruktive wird“.

Timm erzählte von einer frühen Begegnung mit der Utopie

Man merkte, wie häufig (und überaus gern, wie Timm mitteilte), der Schriftsteller in Hamburg ist. Er konnte viel bei den Zuhörern voraussetzen und kam kursorisch auf seinen letzten Roman „Ikarien“ zurück, in dem es um die fehlgeleiteten Ideen des Rassehygienikers Alfred Ploetz geht. Die Arbeit an jenem Roman mag auch ein Beweggrund gewesen sein, sich eingehend mit dem utopischen Denken zu beschäftigen.

Timm erzählte von einer frühen Begegnung mit der Utopie, zu einer Zeit, in der diese für ihn als Heranwachsenden aber sicher noch nicht diese Bezeichnung trug. Am Isebekkanal, wo er als Kind viel spielte, konnte er nach dem Krieg das Lager von Roma-Familien in Augenschein nehmen. Die Kinder mussten nicht zur Schule gehen, es gab keine Züchtigungen durch die Eltern. Eine unbekannte Welt für einen Hamburger Jungen, „mich hat diese Welt fasziniert.“

Utopisches Scheitern kann auch vergnüglich sein

„Prophet“ ließ sich Carlos Gesell in Argentinien nennen. Seine Geschichte fügt sich ein in spezifisch deutsche Träume von der Verbesserung der Zustände. Dass diese bei ihm nicht in der Katastrophe mündeten, macht ihn zum Sympathieträger. Carlos Gesell war der Sohn Silvio Gesells, der nach dem Ersten Weltkrieg in der Münchner Räterepublik Volksbeauftragter für Finanzen war und Erfinder der Freiwirtschaft. In der sollte Schrumpfgeld kursieren, das an Wert verliert, wenn es nicht investiert wird. Die Gesells waren eine Sippe mit Ideen, so viel wurde denen, die vorher noch nicht von ihnen gehört hatten, bei Timms Vortrag klar.

Dass Utopisten, wie Moderator Greiner einwarf, „oft keine netten Menschen“ waren, traf auf Gesell nicht zu. Der habe, so Timm, ausgesehen wie Ernest Hemingway (das stimmt), und es nicht an Humor fehlen lassen.

Was die Zuhörer an diesem Abend durch Uwe Timms Gesell-Erzählung lernen konnten, ist jedenfalls: Utopisches Scheitern kann auch vergnüglich sein.