Hamburg. Uraufführung von Rainald Goetz’ „Reich des Todes“ wird bei Karin Beier am Schauspielhaus zur exzessiven, assoziativen Angelegenheit.
Keine Folter. Man muss es nur lange genug wiederholen, zur Not in Großbuchstaben, weiß auf schwarz: KEINE FOLTER. Es bleibt nicht weniger falsch, aber es wird zur gültigen Wirklichkeitserzählung, während Menschen spitze schwarze Kapuzen übergezogen bekommen, während sie gedemütigt, geschlagen, vergewaltigt, fotografiert werden. Wegducken der Verantwortlichen möglich, weil ja: Keine Folter. Hey, Abu Ghuraib, war doch nicht so gemeint!
Begrifflichkeiten zählen in dieser wuchtigen, demonstrativen, (viel zu) langen, überreizten, überfordernden Uraufführung am Deutschen Schauspielhaus. „Reich des Todes“ heißt sie, und man hätte ihr wohl kaum eine noch größere Aufladung verpassen können: Erster Rainald-Goetz-Theatertext seit Jahrzehnten, erste Premiere nach einem halben Jahr Schließzeit, coronagerecht bedrückend leermontiertes Parkett, Symboldatum 11. September.
Auch wenn da ein Oberjustizrat (Markus John) mit einer Art Kernsatz altklug daherkommt: „Nicht was wir sagen, ist entscheidend, sondern was geschieht.“ Niedlicher Gedanke. Nicht erst seit Donald Trump wissen wir (und werden sicherheitshalber noch einmal deutlich erinnert): „Politik braucht Lügen.“
Das ist nach mehr als vier Stunden Spektakel, das eine ganze Batterie an Verstörungsmomenten, Textsalven und monumentalen Bildern bereit hält, das womöglich Erschütterndste: Was Rainald Goetz hier in der exzessiven, assoziativen und darin ausgesprochen souveränen Regie von Karin Beier erzählt – es ist nur die Vorgeschichte.
Man muss mächtig laut sein, um das Jetzt zu übertönen
Was übrigens direkt eine Schwierigkeit des Abends beschreibt: Man muss schon mächtig laut sein, um die Gegenwart zu übertönen. Corona, Moria, Trump, Klimakollaps... Die echte Welt da draußen scheint zu explodieren; wie kann ein Theater, das offensichtlich auf Überwältigung setzt, da noch mithalten.
Durch einen alten dramaturgischen Kniff: mit einem Erdbeben beginnen und dann steigern. Karin Beier wählt 9/11 – als Premierentermin, aber auch als als Einstieg in die Inszenierung. Mit großem Getöse krachen die Flugzeuge noch einmal in die Gebäude, von hinten wallt eine kolossale Staubwolke heran, geschockte Überlebende wanken stammelnd „in die Finsternis hinein“, als auch schon der selbstgefällige Vizepräsident herankraucht, der wie alle Figuren im Stück schnell erkennbar, aber mit einem anderen Namen versehen ist.
Selch statt Cheney, Frau von Ade statt Condoleeza Rice, der Präsident heißt sprechend „Grotten“, es gibt einen (eigens als hübsche Hamburgensie hineingeschriebenen?) Justizrat Schill, den Ensemble-Neuzugang Daniel Hoevels mit ehrgeiziger Eilfertigkeit versieht.
Unfassbar genau und stark agierendes Ensemble
Das sowohl im einzelnen (Sandra Gerling! Lars Rudolph! Maximilian Scheidt! Josefine Israel! Anja Laïs! Burghart Klaußner natürlich, mit Hitler-Scheitel und SS-Stiefeln!) als auch als Gruppe unfassbar genau und stark agierende Ensemble wird, verstärkt durch Tänzer und Musiker, von seiner Regisseurin keine Sekunde geschont, sondern bis zur Erschöpfung (der Schauspieler, aber auch des Publikums) durch alle Spielarten von Ausdruckskraft getrieben. Herausragend ist Sebastian Blomberg als Selch-Cheney, der in Jim-Carrey-hafter Körperlichkeit eine berückend verschlagene Type gibt, die auf dem Hoverboard eiskalt durch die Szenerie gleitet und den zunehmenden moralischen Verfall auch äußerlich sichtbar macht.
Körperlichkeit spielt ohnehin eine mindestens so große Rolle wie die enormen Goetzschen Wortkaskaden, „jeder Gedanke eine MG-Salve“. Überbordend ist die Inszenierung, dabei auch wie übermüdetes Twitter-Scrollen in einer schlaflosen Nacht, viel Geschrei, Geblubber, Aufdringlichkeit. Entgrenztes und Fundamentales zwischen Kuriositäten, schwer, sich zu entziehen.
Die US-Nationalhymne scheppert auf der Oud, es gibt choreografierten Sex, lustvollen Sadismus, ikonische Folterbilder zu doppelt unerträglichen Slapstick-Clownerien, es gibt „KEIN HAKENKREUZ“, Politiker-Wasserkopfmasken für alle, denen die Anspielungen noch nicht klar genug sind (Kostüme: Eva Dessecker, Wicke Naujoks), es gibt die wunderbare Wortschöpfung „Männerstumpfismus“, Journalistenbashing, einen (nunja, eher platten) Verweis auf das legendäre Stirnritzen des Autors bei einer Lesung vor fast 40 Jahren, es gibt Flaggenflackern (Video: Voxie Bärenklau) und die Enthemmungshymne „The Roof Is On Fire“ („Burn, motherfucker, burn!“).
Wer permanent angeschrien wird, schaltet irgendwann ab
Die Tiefe des Raumes (Bühne: Johannes Schütz) wird voll ausgekostet, die Abstandsbemühungen der Akteure geraten dennoch immer wieder eher symbolhaft. Die Schwimmnudelabstandshalter immerhin, die es während der Corona-Proben zu einiger Berühmtheit brachten, haben es tatsächlich ins Stück geschafft. Erzählt wird im Grunde nichts, was man noch nicht wusste, man hatte es zuletzt nicht in dieser Dichte und ganz sicher nicht in dieser Intensität parat.
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Reich des Todes“ ist Schlagworttheater auf unbestreitbar hohem Niveau, eine Nummernrevue der Unworte und Zusammenhänge: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „Krieg gegen den Terror“, „Klima der Angst“, „Angriff ohne Beispiel“, alles dabei. „Blackwater“ – lange nicht gehört, längst durch neue Skandale abgelöst. Und natürlich: „Immer wieder Hitler“ – das Böse, so vielleicht die Lektion, verkümmert zur Worthülse, ist aber eine beunruhigende Konstante. Der schonungslose Abend möchte, so scheint es, mit aller Macht schockieren, verstören, gehört werden, der Zuschauer soll Position beziehen: „Und wer warst du? Henker oder Opfer?“ Bloß: Wer permanent angeschrien wird, der schaltet halt irgendwann ab.
Vielleicht ja ein Grund, warum nach der Pause noch mehr Plätze als pandemiebedingt ohnehin nötig frei blieben? In der ersten Reihe war außer der Souffleuse nur ein einziges Paar übrig. Auch dieser Umstand hatte – zumal an einem Abend, der so üppig auf Wirkung gebaut ist – eine gewisse Konsequenz.
„Reich des Todes“ wieder am 14. und 19.9., jew. 19.30, Deutsches Schauspielhaus, T. 248713