Hamburg. Die hochtourige Inszenierung von Molières Klassiker „Der Geizige“ hatte eine grandiose Premiere – mit kleinem Wermutstropfen.

Eigentlich war die Vorfreude auf Leander Haußmanns Inszenierung von Molières „Der Geizige“ im Thalia Theater mit Iffland-Ring-Träger Jens Harzer in der Titelrolle ja im Mai schon groß. Die Programmhefte waren gedruckt. Dann kam Corona und der Regisseur setzte die Rollenarbeit über Zoom fort. Offensichtlich mit Gewinn, denn als am Wochenende die Inszenierung endlich mit monatelanger Verspätung über die Bühne geht, kündigt sich an, dass sie ein Publikumshit wird – auch bei nur 300 Premierengästen im Thalia.

Die Komödie „Der Geizige oder Die Schule der Lügner“ erscheint hier neu, frisch, anders. Das beginnt bei der beängstigend genauen Textfassung von Frank-Patrick Steckel. Es führt über Jens Harzer, der als Geizhals und Familientyrann Harpagon alle Register der Komik zieht. Und es endet bei den exakt gezeichneten Nebenrollen, die nicht in Statisterie ausgebremst werden.

„Der Geizige“ im Thalia Theater mit Geisterlichtern

Ein kleiner Wermutstropfen ist die Bühne von Peter Schubert, denn vom ursprüngliche Entwurf musste er sich verabschieden und so ist sie zu Beginn bis auf einige von der Decke hängenden Glühbirnen pandemiefreundlich leer. Die Lampen erinnern an die Geisterlichter, die in den geschlossenen Theatern leuchten und laut Aberglaube die Geister nachts zum Spielen animieren sollen – eines davon hing auch über Monate im Thalia Theater.

In diese anfängliche Leere hinein klagen sich Harpagons Sohn Cléante (etwas überambitioniert: Steffen Siegmund) und seine Tochter Elise (verhuscht und verzweifelt: Toini Ruhnke) ihr Leid und ihre Heiratsabsichten, von denen sie ahnen, dass der Vater sie nicht gutheißen wird. Denn Harpagon ist jede Sprache des Herzens fremd, er versteht sich nur auf Gier und Geld. Und seine größte Sorge gilt allein einer vergrabenen Geldkassette.

Als Jens Harzer aus dem Bühnenhintergrund mit Mühe an die Rampe schlurft, muss man zweimal hinschauen. Janina Brinkmann hat ihn mit Bauch, Buckel, Überbiss, Schnauzbärtchen, Bürstenfrise, Jogginghose, dicken weißen Socken, Slippern und Kassenbrille als neureichen Prolet derart verunstaltet, dass er nur noch an der Stimme zu erkennen ist. Gut, dass der Diener La Flèche (Sebastian Zimmler) dem Schwankenden rasch einen rettenden Plastikstuhl hinschiebt.

Pascal Houdus spielt Valère grandios ungelenk

Wie erwartet bringt der herrlich fies aufspielende Harzer als Patriarch für die Wünsche seiner Brut kein Verständnis auf. Schlimmer noch, will er für Tochter und Sohn zwei finanziellen Gewinn versprechende Zweck-Ehen arrangieren. Doch da wird es kompliziert, denn Elise begehrt Valère, grandios ungelenk gegeben von Pascal Houdus, der sich als Diener in den Haushalt einschleicht. Cléante ist verliebt in Mariane, klug und würdevoll gespielt von Rosa Thormeyer – nicht ahnend, dass Harpagon selbst um sie wirbt.

Vermitteln soll das die verführerische „Gelegenheitsmacherin“ und Überlebenskünstlerin Frosine, hinreißend gespielt von der klug mit Gefühlen und Reizen jonglierenden Marina Galic. Die Schauspielerinnen müssen wie immer bei Haußmann mit knappen Dekolletés und ultrakurzen (im Fall von Rosa Thormeyers Mariane mit transparenten) Kleidern aufwarten. Das ist so unzeitgemäß, dass es fast etwas Ironisches bekommt, wenn Galics Frosine an ihren Bustier-Einlagen nestelt.

Theater-Abend findet rasch in sein Tempo

Bei aller Kargheit und allem gebotenen Abstand schöpft das Ensemble aus dem wortwitzigen und windungsreichen Text, es findet in den burlesken Szenen zu körperlichem Spiel und der Abend rasch in sein Tempo. Haußmann gewinnt dem 1668 uraufgeführten Klassiker starke Seiten ab, in dem er den Kern als Charakterkomödie freilegt und ihn als Generationen- und vor allem als Vater-Sohn-Drama erzählt: Der knausrige, bürgerliche Menschenverächter gegen den heißblütigen, auf Pump lebenden Rebellen. „Hebe Dich hinweg, sage ich dir, und mach mir nicht die Ohren warm“, brüllt Harpagon den armen Cléante an.

Als die Geldkassette gestohlen wird, fällt der Patriarch buchstäblich in sich zusammen. Sich seiner künstlichen Körperfülle entledigend hält er, nun mehr auf sich gestellt, im Kunstschnee-Regen stehend einen so erbarmungswürdigen Monolog, das man beinahe mit ihm fühlen will: „Ich bin hin, ich bin erschlagen worden, den Hals hat man mir abgeschnitten, beraubt hat man mich um mein Geld.“ Haußmanns Theater ist auch eines, das sich immer wieder der Theatermittel entkleidet, sie als künstlich sichtbar macht.

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Virtuos stolpern und fallen die Figuren über die Stufen

Das kommt im fünften Akt zum Tragen, als auf sich einmal aus allen Himmelsrichtungen doch noch Kulissen zu einer barocken Showtreppe auf die Bühne schieben. Und das bis auf Harpagon ebenfalls höfisch mit Gewändern und Perücken aufgerüschte Personal dem Höhepunkt entgegenstrebt. Virtuos stolpern und fallen die Figuren über die Stufen als eine in Erosion begriffene Gesellschaft, die Haußmann in hemmungsloser Anarchie implodieren lässt.

Das ist ein unerwartet spielfreudiger und lässiger Kunstgriff, der wie eine Befreiung wirkt. Hier lösen sich die Handlungsstränge, Missverständnisse und Familiendramen auf. Sebastian Zimmler, der nun den Vater von Valère und Mariane gibt, wird mit seinem feinen, subtilen und doch hochpräzisen Humor in jedem noch so kurzen Auftritt zum Ereignis. Auch Pascal Houdus glänzt als Valère, der sich gekonnt und hochkomisch in Mehrsprachigkeit verheddert. Nur einer lugt am Ende gänzlich ungeläutert auf der Suche nach dem Dieb in den Saal. Vorhang. Berechtigter Jubel.

„Der Geizige oder Die Schule der Lügner“: Weitere Vorstellungen: 22.9., 19.00, 24.9., 20.00, 1.10., 5.10., 13.10., 14.10., jew. 19.30, Kartentel. 32 81 44 44. www.thalia-theater.de