Hamburg. Saisonauftakt unter Corona-Bedingungen mit 400 Zuhörern statt 10.000. Trotzdem: Jedes Konzert ist besser als kein Konzert.
Die Musikstadt Hamburg hat im Spätsommer 2020 etwas geschafft, was ihr Klassiker-Konkurrenten erst einmal nachmachen müssen: Auf einer Open-Air-Bühne, die ansonsten von Pop-Acts bespielt wird, zum Finale ein Stück des Zwölfton-Klassikers Arnold Schönberg serviert zu bekommen.
Ohne dass sich Hunderte Zuhörer sofort verschreckt in die vielen Büsche der näheren Umgebung schlagen, sondern begeistert applaudieren, obwohl die Spätabend-Temperaturen schon eher einstellig waren. Alle Achtung, eine wirklich reife Leistung.
Kent Nagano im Stadtpark: Walter Benjamin statt Stagediving
Obwohl, hundertprozentig richtig ist dieser Abschluss eines denkwürdigen Abends nicht nacherzählt: Denn Generalmusikdirektor Kent Nagano dirigierte zwar einen echten Schönberg unter dem finsteren Himmel, doch kein Original, sondern sein originelles, geschickt eingedampftes Orchesterchen-Arrangement von Johann Strauß’ „Kaiserwalzer“. Und schon der Beginn des Abends wich deutlichst von den hier üblichen „Hello Hamburg!! So great to be here! How are you? Feeling good?!?!“-Rankumpeleien ab.
Hier wurde, total undoppelbödig, der Kulturkritiker Walter Benjamin zitiert, seine Sentenz über das Erlebnis Konzert als „das einmalige Hier und Jetzt von Kunst“. Es fehlte also nicht viel, und Besucher hätten fröhlich Adorno-Thesen gegröhlt oder sich, statt etwas Stagediving inklusive Bierdusche, mit ihren Doktorarbeiten beworfen.
400 Zuhörer zum Saisonstart der Philharmoniker – statt 10.000
Die Umstände dieses Philharmoniker-Auftritts waren so besonders und so spaßbremsend, wie sie in diesen Tagen nun mal sein müssen: Die vergangenen beiden Saisonstart-Open-Airs, auf dem voll besetzten Rathausmarkt, hatten jeweils um die 10.000 Besucherinnen und Besucher angezogen, eng an eng, dazu ein großes Orchester auf der Bühne. Nun aber: etwa 400 Menschen, luftig verteilt auf die rund 620 Stühle. Und mehr als knapp zwei Dutzend Mitwirkende waren ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit.
Spätsommerlich schattig war es außerdem, ideale Startbedingungen hätten anders ausgesehen. Als Spezial-Kundendienst für die Zielgruppe und die Stammkunden hatte man auf das hier gerade übliche Johannes-Oerding-Bestuhlungs-Prinzip – bis zu zehn Menschen nebeneinander, dicht an dicht, wären möglich – verzichtet, stattdessen wurde zwischen besetzten Stühlen je ein Platz frei gelassen.
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An der freundlichen Bestimmtheit, mit der die türrahmenbreiten Ordner darauf hinwiesen, was man wo dürfe oder ganz bestimmt nicht, gab es allerdings keine Abstriche. Damit klar war, dass dieses Konzert der Auftakt für eine sonderbare Saison sei, unterbrachen mehrfach kleine Werbeblöckchen-Durchsagen von Moderation Janina Zell zu kommenden Konzerten die Kammermusik-Show, ergänzt durch Anspielungen auf die anstehenden Programme und die nächsten Stücke in der Staatsoper. Nagano selbst ergänzte das mit deutlich emotionaleren Aussagen wie „Wir leben, um für Sie zu spielen.“
Jedes Konzert ist jetzt so viel besser als kein Konzert
Keine tunlichst fehlerfreie Wiedergabe von Noten war also das Hauptanliegen dieser zwei Stunden. Dieser Auftritt war nicht nur Lebenszeichen, 213 Tage nach dem letzten, damals noch normalen Konzert vor Publikum und dem Sturz ins Ungewisse, sondern auch und vor allem eine vertrauensbildende Maßnahme. Denn: Jedes Konzert ist jetzt so viel besser als kein Konzert.
Für die Programmauswahl bedeuteten die Einschränkungen allerdings kluges Umgehen mit den Herausforderungen. Statt der leichtergängigen Publikumslieblinge, die man bei derartigen Gelegenheiten ja gern herausholt und abspult, hatten sich Nagano und sein Team für Spezielleres entschieden. Lediglich das Vivaldi-Konzertchen für zwei Trompeten, mit den beiden solide liefernden Solisten Felix Petereit und Eckhard Schmidt, hatte noch etwas Kurmuschel-Wunschkonzert-Aroma.
Naganos Ehrgeiz wirkte bis zum Schluss
Als Gruß an die hiesige Historie folgte eine der ebenso frühen wie reifen Streichersinfonien, mit denen der junge Felix Mendelssohn Bartholdy leichtsinnlich seine Klasse bewies. Unter freiem Himmel und verstärkt verloren sich viele Details, doch die Reste genügten immerhin noch, um zu erahnen, wie virtuos dieses Stück vor sich hin fantasiert und mit Ideen spielt. Tapfer schulterfrei strich sich die Bratscherin Naomi Seiler mit sattem Ton danach durch Bruchs Romanze, eines dieser großartigen Kleinigkeiten, denen Schönsein genügt.
Man hätte auch so weitermachen können. Doch Naganos Ehrgeiz, selbst unter so misslichen Umständen noch eine Extra-Schwierigkeit meistern zu wollen, brachte Dvoraks d-Moll-Senerade auf die Notenpulte: Ein Dutzend Instrumente, Bläser und Streicher, zwölf Solo-Stimmen, die alle mit Tonabnehmern an den Instrumenten eine schlüssige Einheit ergeben sollten und nicht nur Klangbrei. Keine leichte Aufgabe in der feuchtkühlen Abendluft, die den Spiel-Vorgang zur klammen Schwerarbeit macht. Doch man bekam einen Eindruck davon, wozu Orchester in der Lage sein können. Wenn man sie lässt und wenn Musik wieder nur Musik, Spiel und Austausch ist und nicht auch Strapaze.
1. Philharmonisches Konzert: 27. / 28. September, Elbphilharmonie, Großer Saal. Jeweils um 18.30 Uhr: Hindemith Kammermusik, Schuberts 5. und Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“ mit Julian Prégardien (Tenor). Jeweils um 21 Uhr statt Mahler Ligetis „Hamburgisches Hornkonzert“ mit Marie-Luise Neunecker (Horn). Kartentelefon: 356868