Hamburg. Ein Gespräch mit der Verlegerin Silke Weitendorf über Kindheit im Wandel: “Greta ist quasi in Pippis Fußstapfen getreten.“

„Außerhalb der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter verwahrloster Garten. In dem Garten stand ein altes Haus, und in den Haus wohnte Pippi Langstrumpf. Sie war neun Jahre alt und sie wohnte ganz allein da.“ Mit diesen Worten begann die Revolution auch in deutschen Kinderzimmern. Ein „merkwürdiges Mädchen“ war da plötzlich in der Welt, ein unbekümmertes, rotbezopftes, sommersprossiges Mädchen, das stark war, reich und unerschrocken - und das der Welt kurz nach den schrecklichen Kriegsjahren vormachte, wie man auch freundlich und empathisch mit solch einer Macht umgehen kann.

Und auch wenn dieses Mädchen für immer ein Kind bleiben wird: Pippi Langstrumpf feiert an diesem Donnerstag ihren 75. Geburtstag. Silke Weitendorf war als Tochter des Verlegers das erste deutsche Kind, das Pippi kennenlernen durfte. In ihrem Duvenstedter Büro im Oetinger Verlag pinnt ein persönlicher Brief von Astrid Lindgren an der Wand, auf Sesseln und Fensterbänken sitzen Pippi-Figuren und lauschen dem Gespräch. Und vor den Fenstern, außerhalb der großen Stadt, liegt ein wunderschöner, ganz und gar nicht verwahrloster Garten.

Hamburger Abendblatt: Nun wird Pippi Langstrumpf also 75 Jahre – hat sie ihre Mission erfüllt, oder hat sie uns heute noch etwas zu sagen?

Silke Weitendorf: Es gibt einige Buchhändler, die sagen: „Immer wieder die Pippi, wir haben doch so viel andere Kinderliteratur.“ Und manchmal stellen sie sie dann ins obere Regal, an das man nur mit der Leiter herankommt. Deswegen ist es so wichtig, dass wir die Geschichten am Leben erhalten und sie immer wieder erzählen. Auch heutige Kinder und Eltern sollen wissen, wer Pippi Langstrumpf ist.

Sie glauben, man muss etwas dafür tun?

Weitendorf: Ja, ich glaube schon. Neue Kinderliteratur hat auch ihre Berechtigung, selbstverständlich, aber „Pippi“ ist keine Trendgeschichte, sie ist allgemeingültig und zeitlos. Sie kann immer noch Menschen positiv beeinflussen. Und Pippi hat nach wie vor viel zu sagen, mit ihren Botschaften ist sie sogar aktuell sehr präsent.

Greta Thunberg zum Beispiel – ich möchte nicht behaupten, sie sei eine neue Pippi, aber auch Greta ist nicht angepasst und rebelliert gegen die Verhältnisse. Sie hat einige spannende Parallelen zu Pippi. Sie ist auch Schwedin, und durch ihren Autismus hat sie diese besondere Ausstrahlung, dass die Meinung der Außenwelt sie nicht so stark anficht – genau wie Pippi. Greta ist quasi in Pippis Fußstapfen getreten. Das finde ich schon spannend. Damit hat sie viele junge Menschen ergriffen und motiviert, sich wieder ganz andere Gedanken zu machen.

Verlegerin Silke Weitendorf (Archivbild).
Verlegerin Silke Weitendorf (Archivbild). © dpa

Welche frühen Erinnerungen haben Sie an Pippi? Wissen Sie noch, wie Ihr Stiefvater Ihnen das Buch in die Hand gedrückt hat?

Weitendorf: Oh, aber natürlich, ich wusste früh, dass ein ganz besonderes Buch im Entstehen ist. Wirklich kennengelernt habe ich das erste Pippi-Buch aber erst, als es schon gedruckt vorlag. Ich konnte schon recht früh selbst lesen, zum Ende des ersten Schuljahres, und es hat mich begeistert, schon damals. Was in dem Text wirklich alles drin steckt, habe ich erst später begriffen, beim vielfachen Bearbeiten und beim Vorlesen für die eigenen Kinder und Enkelkinder. Dabei merkt man erst, wie genial Astrid Lindgren ihren Humor wiedergegeben hat, diese Fantasie, diese verrückten Einfälle. Das hat sich einem als Kind natürlich mitgeteilt, weil es ja so ungewöhnlich war. Das war das Besondere der Lektüre gerade in der Nachkriegszeit, in der die Kinder ja völlig anders aufgewachsen sind.

In welche Welt kam Pippi da bei Ihnen, in welche Kindheit?

Weitendorf: Es war in der Nachkriegszeit ein enorm hartes Brot für meine Eltern, das habe ich als Kind schon mitbekommen. Meine Mutter hat eigentlich Tag und Nacht gearbeitet. Sie hat für unseren Verlag mit den Papierfabriken verhandelt, sie hat unter anderem die Herstellung betreut. Ich war ein Schlüsselkind, lange Jahre. Ich habe mir nach der Schule selbst etwas zu essen gemacht, Haferflocken mit Milch und Zucker, sehr ungesund, danach habe ich meine Schularbeiten gemacht – übrigens, vielleicht war das auch ein Pippi-Einfluss, sehr gern liegend auf unserem Holzbalkon. Wir wohnten damals zur Untermiete in Wellingsbüttel. Anschließend bin ich nach draußen gegangen und habe auf der Straße gespielt, ohne dass an Gefahren gedacht wurde. Die Eltern machten sich keine große Sorgen. Jedenfalls nicht um die Kinder.

Aber manche Kritiker und Pädagogen machten sich Sorgen nach Erscheinen der Erstausgabe, schon in Schweden: „Kein normales Kind isst eine ganze Sahnetorte auf oder geht barfuß auf Zucker“, hieß es in der Zeitung Aftonbladet. „Beides erinnert an die Phantasie eines Irren.“

Weitendorf: Pädagogen und Eltern haben sich schwer getan am Anfang. Auch wenn es schon damals viele gab, die das Buch großartig fanden und erkannten, wie modern es war und dass Kinder durchaus unterscheiden können zwischen Fantasie und Realität. Das hat Astrid immer gesagt! Kinder konnten und können das einordnen und die Ängste waren deshalb unbegründet. Aber es gab diese Sorgen – und sie kamen in Deutschland eher aus dem Süden des Landes und aus Österreich und der Schweiz. Die Verbreitung des Buches hatte ein starkes Nord-Süd-Gefälle, es hat viele Jahre gedauert, bis das Buch auch in Süddeutschland durchgesetzt war.

Hätte ein Buch, das sich nicht gleich am Anfang durchsetzt, heute überhaupt eine echte Chance?

Weitendorf: Normalerweise, da haben Sie recht, müsste es sich heute schnell zeigen, ob ein Buch ankommt. Aber es gibt auch jetzt Fortsetzungsbände, bei denen sich erst mit dem zweiten oder dritten Band die wirkliche Beliebtheit zeigt. Harry Potters Bekanntheit wurde auch erst mit den Folgebänden wirklich groß, den Hype gab es nicht vom ersten Band an.

Erinnern Sie sich, wie bei Ihnen zu Hause über die ersten Kritiken gesprochen wurde?

Weitendorf: Ja, bei negativen Rezensionen wurde natürlich gesagt „Ach, der hat’s nicht verstanden!“, aber es wurde auch gejubelt über die schönen frühen Rezensionen von 1950 bis 1952, in denen Pippi schon der Weltruhm vorausgesagt wurde. „Da müssen die Schweden daherkommen und uns zeigen, wie man das köstlichste Kinderbuch der Welt macht“ und solche Aussagen. Diese begeisterten Stimmen wurden bei uns zu Hause natürlich gern gesehen! Das hat dem Buch in der Verbreitung sehr geholfen, auch wenn in Schweden ein Rezensent schrieb, das Buch sei „etwas Unangenehmes, das an der Seele kratzt“...

Wie waren denn Kinderbücher sonst damals? Was haben Sie vor „Pippi Langstrumpf“ gelesen oder vorgelesen bekommen?

Weitendorf: Das waren alles Bücher, die mindestens unterschwellig das Kind zum Guten und Braven erziehen sollten. Das Bravsein war gerade bei den Mädchenbüchern sehr angesagt. Die sollten den Eltern gefallen. Es war alles darauf ausgerichtet, dass die Rollenklischees erfüllt werden. Ich habe die „Familie Pfäffling“ gern gelesen, da war das auch so. Ordnungsliebend und etwas autoritär. Ich hatte allerdings durch meine Verlegereltern das Glück, sehr früh mit moderner Kinderliteratur in Berührung zu kommen. Ich mochte Erich Kästner und „Mary Poppins“, Andersens Märchen und Grimms Märchen natürlich. Und „Piet und seine Brüder“ von Edgar Walsemann, ein Hamburger Buch, das an der Elbe spielte, das habe ich verschlungen. Bei „Pippi“ kam der ganz große Verkaufserfolg erst durch die Filme.

1968, zwanzig Jahre später!

Weitendorf: Ja, eine lange Zeit. Natürlich war Pippi schon für das Überleben des Oetinger Verlages entscheidend gewesen. Oetinger war anfangs ein kleiner, finanziell sehr schwer belasteter Verlag. Die Autorin Astrid Lindgren und insbesondere Pippi haben vieles bewirkt. Deswegen sagen wir voller Überzeugung: Wir verdanken Astrid Lindgren alles.

Ihren Vater beschrieb Astrid Lindgren später als „sanftmütigen, braunäugigen, freundlich lächelnden Mann, der Franz Schubert auffallend ähnlich sah“. „Nach einem besonders erfolgreichen Verleger sah er nicht gerade aus“, fand sie. Deutschland war das erste Land, das „Pippi Langstrumpf“ außerhalb von Schweden verlegte - und Ihr Vater war eigentlich ein Wissenschaftsverleger und gar kein Kinderbuchverleger.

Weitendorf: Er sah Schubert wirklich ähnlich! Der „Kinderknigge“ war das erste Kinderbuch, was er herausgebracht hatte – für heutige Verhältnisse zuviel Knigge, aber für damalige Verhältnisse schon freiheitlich. Und Friedrich hatte eine Freundschaft mit einem jüdischen Autor, der nach Stockholm emigriert war und ihn dorthin einlud, damit er einmal aus dem dunklen, zerstörten Hamburg heraus kam. Das Visum zu bekommen, war gar nicht leicht, aber 1949 war er dort, in diesem reichen, hell erleuchteten Stockholm. Es hat ihn sehr beeindruckt. Dort sah er das „Pippi“-Büchlein in einer Buchhandlung und erfuhr von den Kontroversen, aber auch davon, wie die schwedischen Kinder diese Figur liebten – und er traf Astrid Lindgren, die gar nicht weit von dieser Buchhandlung entfernt lebte.

Ihr Vater bekam die Rechte. War die deutsche Ausgabe anders als die schwedische?

Weitendorf: Die Optik war etwas anders. Was daran lag, dass der Gebrauchsgrafiker Walter Scharnweber, der damals mit Friedrich Oetinger in einer Bürogemeinschaft im Hamburger Pressehaus saß, direkt gesagt hat, er wolle sie illustrieren. Und weil meinem Vater die schwedische Pippi zu comichaft war und er zudem mit Walter Scharnweber befreundet war, wurden es also seine Entwürfe: Dieses zu kurz geratene Kleid, der eine Ringelstrumpf. Das wurde auch im Text angeglichen. Aber die Stupsnase, die roten Haare, die Zöpfe, die Sommersprossen, die zu großen Schuhe – all das ist natürlich geblieben. Die Übersetzerin Cäcilie Heinig musste allerdings sehr flott übersetzen, zwischen Vertrag und Erscheinen lagen nur wenige Monate – was dazu geführt hat, dass sie manche Passagen ausgelassen hat, für kleinere Wortspiele zum Beispiel fielen ihr so schnell keine Entsprechungen ein. Oder auch der Name des Nachbarjungen Tommy – das ging im Nachkriegsdeutschland nicht, „Tommy“ war ja ein negativ besetzter Begriff für den Engländer schlechthin. So hieß er hier dann also Thomas. Und mein Vater als Antimilitarist wollte nicht, dass Pippi Tommy in einem Kapitel eine Pistole schenkt. Also schenkt sie ihm stattdessen ein kleines Auto. Das war mit Astrid abgesprochen, sie hat es verstanden. Später wurde es übrigens wieder zurückgeändert. Über den Begriff „Negerkönig“ wurde – noch später, viel später – immer mal wieder diskutiert und dieser Begriff wurde schließlich auch geändert. Aber schon 1986 haben die Übersetzerin Angelika Kutsch und ich Anpassungen ans Original vorgenommen. Das war eine intensive Arbeit, aber sie war uns wichtig. Und Astrid war sehr froh darüber.

Dass ausgerechnet 1968 Pippis großer Durchbruch kam, überrascht kaum – da passte sie sehr viel besser zum Zeitgeist.

Weitendorf: Richtig. Ich kann mir schon vorstellen, dass Pippi dabei auch einen Einfluss hatte. Die Gesellschaft war in vielen Bereichen im Umbruch. Und es entwickelte sich auch eine andere Art der Kinderliteratur. „Kindheit“ wurde in einer neuen Art gedacht.

„Pippi Langstrumpf“ war anfangs empfohlen ab 10 Jahren...

Weitendorf:...dann ab 8, heute sagt man eigentlich: Ab 6 ist es auf jeden Fall in Ordnung.

Lesen Sie auch:

Die Frau, die Pippi Langstrumpf nach Hamburg holte


  • Streit mit Astrid-Lindgren-Erben: Aus für Villa Kunterbunt?

  • Pippi Langstrumpfs Kino-Comeback dank Harry-Potter-Machern

  • „Pippi“ ist eine Geschichte, die Kinder ernst nimmt. Sie haben einmal erzählt, dass Astrid Lindgren Sie Dinge gefragt hat, die sonst niemand von Ihnen wissen wollte: zum Beispiel, ob Sie ein glückliches Kind waren. So etwas war damals nicht so sehr im Fokus.

    Weitendorf: Ja, das war so. Astrid wollte es wirklich wissen. Immer. Sie wollte grundsätzlich wissen, was für ein Mensch ihr gegenüber sitzt. Sie war sehr empathisch. Wie Pippi!

    Sie selbst sollen als Kind eher eine Annika als eine Pippi gewesen sein, genau wie Karin Nyman, Astrid Lindgrens Tochter, für die Pippi ja erfunden wurde.

    Weitendorf: Ja, eindeutig. Heute sind Kinder anders.

    Heute gibt es mehr Pippis?

    Weitendorf: Das sehe ich absolut so. Die Mädchen wachsen anders auf, müssen nicht so angepasst sein, treten selbstsicherer auf. Wobei, es stimmt schon, bei den jüngeren Mädchen spielt diese Rosa-Welle inzwischen wieder mehr eine Rolle. Aber das kommt durch die Eltern.

    Bei Astrid Lindgren war Pippi der Beginn einer ganzen Reihe starker Mädchenfiguren.

    Weitendorf:, „Madita“ hat einen sehr großen Gerechtigkeitssinn. Und natürlich „Ronja Räubertochter“, die sogar so weit geht, dass sie allein in den Wald zieht und erst zurückkommen will, wenn ihr Vater sich verändert hat. Astrid hat viele starke Charaktereigenschaften an Mädchen vergeben. Andererseits hat sie auch Jungenfiguren geschrieben, die zart besaitet sind und starke Gefühlsregungen haben – wenn ich an „Mio, mein Mio“ denke oder den kleinen Pelle, der auszieht. Sie selbst war nicht nur eine fröhliche Frau wie Pippi, sie hatte auch eine Nachdenklichkeit und eine Melancholie.

    Andererseits – und da wirkt doch eindeutig der Geist Pippis – ist sie noch im hohen Alter auf Bäume geklettert, es sei schließlich nicht verboten, so etwas Herrliches zu tun. Das erinnert daran, wie Pippi einmal rückwärts nach Hause geht und fragt: „Leben wir etwa nicht in einem freien Land? Darf man nicht gehen, wie man möchte?“

    Weitendorf: Ja, „es steht schließlich nicht in Moses Gesetzen, das alte Weiber nicht auf Bäume klettern dürfen“, hat Astrid Lindgren gesagt! Fantastisch. Ihre Freundin Elsa Olenius, eine Theaterpädagogin, mit der sie um die Wette kletterte, war sogar noch älter als sie.

    Und Sie? Sie sind 79 Jahre alt, wann sind Sie das letzte Mal auf einen Baum geklettert?

    Weitendorf: Oh, ich glaube das war Anfang des Jahres, hier im Wittmoor, mit meiner Enkelin. Es ist gar nicht so einfach, immer die richtigen Äste zu greifen.