Hamburg. Erster Teil: Rosamunde Pietsch, Heidi Kabel und Rahel Liebeschütz-Plaut. Künftig lesen Sie jeden Dienstag ein neues Porträt.

Die „Hamburger Geheimnisse“ (Band 1 und 2) von Eva-Maria Bast sind Bestseller. In ihrem neuen Buch widmet sich die Schriftstellerin jetzt den großen Hanseatinnen der Vergangenheit. „Hamburger Frauen – Historische Lebensbilder aus der Stadt an der Elbe“ erscheint am 21. Oktober. Alle haben eines gemeinsam: Ihre Schicksale waren eng mit Hamburgs Geschichte verbunden. Sie mussten Kriege erleiden, Pest, den Tod von Kindern und Partnern, Flucht und Vertreibung. Aber sie haben sich nicht beirren lassen und wuchsen an ihren Aufgaben.

Rosamunde Pietsch: Die erste Kommissarin der Hansestadt

Fassungslos bleiben die Menschen stehen und starren die Frau an, die selbstbewussten Schrittes über die Straßen eilt. Sie trägt eine dunkelblaue Uniform. Um den Hals baumelt eine Trillerpfeife, ein Anstecker weist sie als Mitglied der „Polizei Hamburg“ aus. Es ist das Jahr 1948 und Rosamunde Pietsch trotz der Blicke froh um die Uniform. Das macht ihr das Leben leichter – zuvor war sie schon einige Zeit in Zivil unterwegs gewesen, und viele Menschen hatten ihr nicht abgenommen, dass sie eine Polizistin ist.

„Rosamunde Pietsch war die erste Kommissarin Hamburgs. Sie war 1953 die einzige Frau, die als Polizeikommissarin ausgebildet wurde. 1954 wurde sie die Leiterin der ,Weiblichen Schutzpolizei‘“, sagt Dr. Rita Bake, die über die Grenzen der Hansestadt hinaus als Expertin für Frauen in der Geschichte gilt. „Der erfolgreichen Arbeit der Weiblichen Schutzpolizei ist es unter anderem zu verdanken, dass durch einen Senatsbeschluss aus dem Jahr 1978 der Polizeidienst in Hamburg für Frauen vollständig geöffnet wurde.“

Hamburg, 25. Oktober 1945. Die 30-jährige Rosamunde Pietsch steht im Hof der Altonaer Polizeikaserne. Auf dem Kopf eine Baskenmütze, ihre Hände stecken in selbst genähten Handschuhen, an ihrer Brust prangt, mit einer Sicherheitsnadel befestigt, ihr Name. Rosamunde steht kerzengerade. Endlich erfüllt sich ihr Kindheitstraum: wie der Vater den Beruf des Polizisten zu ergreifen!

Ach, der Vater. Der SPD-Mann. Die Nazis hatten ihn verhaftet und ihn vom Polizeidienst ausgeschlossen. Wie hat sich der Vater verändert, auch wenn er nicht lange in den Fängen der Nationalsozialisten war. „Als er zurückkam, war er ein gebrochener Mann“, sagt sie später. Und nun steht sie statt seiner hier. Um Polizistin zu werden. Der raue Ton schreckt sie nicht. Schließlich sind sie alle nicht zum Spaß da.

„Der englische Oberst musterte alle Frauen von Kopf bis Fuß, es ging zu wie beim Militär“, sagt Rita Bake. Schlafen muss sie in einem feuchten, kalten Raum gemeinsam mit den Kameradinnen und ohne Wolldecke. Tagsüber werden sie mit ihren männlichen Kollegen geschult, je fünf Frauen in einer Klasse voller Männer. Zwei Monate dauert die Ausbildung.

Und dann dürfen sie endlich in den Einsatz – immer zwei Kolleginnen zusammen werden einem Revier zugeteilt. Das von Rosamunde Pietsch ist der Hauptbahnhof. Unzählige hungrige Kinder betteln um etwas Essbares, klauen Kohle von den Güterzügen. Die Engländer wollen, dass die Schutzpolizisten ihnen Einhalt gebieten. Nur wie? Die Kinder sind strafunmündig, genau deshalb schicken die Eltern sie ja zum Klauen. Und die kleinen Hanseaten dauern die Polizistin auch. Ungerecht ist es, dass sie hungern müssen, zumal die Besatzer die „Beute“ in die Elbe schütten. „Das hat sie furchtbar wütend gemacht“, sagt Bake.

Rosamunde Pietsch, als sie bereits Leiterin der Weiblichen Schutzpolizei
war. Ihr Büro war neben dem von Helmut Schmidt.
Rosamunde Pietsch, als sie bereits Leiterin der Weiblichen Schutzpolizei war. Ihr Büro war neben dem von Helmut Schmidt. © Ullstein/Contifoto

Anstrengend ist die Arbeit, Rosamunde Pietsch und ihre Kolleginnen haben eine 52-Stunden-Woche. Nachtschichten in Wochenblöcken tun ein Übriges. Bake: „Das ist Schwerstarbeit.“

Rosamunde Pietsch scheint ihre Sache auch aus Sicht der Besatzer gut zu machen: Sie wird als einzige Frau für die höhere Beamtenlaufbahn ausgebildet. Fünf Jahre dauert ihre Ausbildung, dann ist sie Hamburgs erste Polizeikommissarin und ein Jahr später Chefin der Weiblichen Schutzpolizei, die zu diesem Zeitpunkt 45 Frauen stark ist, ihr Büro befindet sich im zweiten Stock des Präsidiums am Karl-Muck-Platz (später Johannes-Brahms-Platz), direkt neben dem von Innensenator Helmut Schmidt. 1961 gründet sie die Jugendschutztruppe.

Bis 1975 bleibt Rosamunde Pietsch im Polizeidienst. Gerade ein Jahr ist sie im Ruhestand, da wird es Frauen erlaubt, bei ihrer Arbeit auch Waffen zu tragen: „Bis 1976 durfte die Weibliche Schutzpolizei ihren Dienst nur zu Fuß machen, und sie durfte sich auch noch nicht bewaffnen“, erklärt Rita Bake. „Doch dann kam es zu einem denkwürdigen Vorfall: Es gab einen Streit, einer zog die Waffe, und eine Polizistin konnte ihrem Kollegen nicht helfen, weil sie ja keine Waffe tragen durfte. Doch sie hat sich darüber hinweggesetzt, einen Gummiknüppel geschnappt und herumgeschrien und so ihren Kollegen gerettet. Danach wurden die Vorschriften, dass Frauen keine Waffen tragen dürfen, geändert.“

Manchem männlichen Kollegen passt das aber so gar nicht: Die Polizistinnen müssen sich nun mit dem Begriff „Flintenweiber“ belegen lassen. Diesen Ausdruck bekommt die zu dieser Zeit schon im Ruhestand befindliche Rosamunde aber nicht mehr zu hören. Und wenn es doch so gewesen wäre – dann hätte sie ihn vermutlich mit dem ihr eigenen Selbstbewusstsein lächelnd abgetan.


Heidi Kabel: „Manchmal war es nicht zum Lachen“

Eine Grande Dame des Schauspiels, eine Legende: Heidi Kabel spielte und sang sich in die Herzen unzähliger Menschen. Ihr Leben lang stand sie auf der Bühne und vor der Kamera. Gästeführerin Christina Linger hat sie immer wieder bei Auftritten bewundert. „Sie war eine unglaublich wache und beeindruckende Persönlichkeit – sie war das Ohnsorg-Theater“, urteilt die Hamburgerin.

Heidi Bertha Auguste Kabel kommt direkt gegenüber ihrer späteren Wirkungsstätte, dem Ohnsorg-Theater, zur Welt. Ihr Vater, der Druckereibesitzer und Verleger Ernst Kabel, ist ausgesprochen heimatverbunden und pflegt die niederdeutsche Sprache, die für seine Tochter Heidi später am Ohnsorg-Theater so wichtig sein wird. Dorthin, zum Theater, kommt sie eher zufällig: „Ihre beste Freundin sollte vorsprechen, ist aber vor Lampenfieber eingegangen. Also sprach Heidi anstelle der Freundin vor und begeisterte Theatergründer Richard Ohnsorg so sehr, dass er sie engagierte“, erzählt die Gästeführerin den Anfang von Heidi Kabels Karriere.

Im Theater begegnet ihr auch die Liebe in Gestalt des 14 Jahre älteren Hans Mahler. So gern will sie ihn heiraten, doch wenn man eine Familie gründen will, denkt sich die junge Schauspielerin, braucht man Geld für Möbel, eine Wohnung, eine Ausstattung. Als 1936 die Stelle des Intendanten am Lüneburger Theater ausgeschrieben ist, nötigt sie ihren Freund, in die NSDAP einzutreten: Nur Parteimitglieder können sich bewerben. Das ist er nicht, und das will er auch nicht werden. Doch Heidi gibt keine Ruhe. Für sie ist es eine reine Formsache. Hans will die gemeinsame Zukunft ja auch, also gibt er schließlich nach und tritt 1936 der NSDAP bei. Aus Solidarität mit ihrem Verlobten tritt Heidi in die NS-Frauenschaft ein. „Für mich war dieser Beitritt zu einer NS-Organisation nichts weiter, als wenn ich irgendeinem Verein beigetreten wäre“, schreibt sie später. Übrigens: Hans erhält die Stelle als Intendant nicht. Trotz Eintritts in die Partei.

Und dann kommt der Punkt, an dem es nichts mehr schönzureden gibt. Es ist der 10. November 1938, Heidi Kabel liest Zeitung. Liest von einem jungen Juden, der den deutschen Gesandtschaftsrat in Paris ermordet hat. Liest weiter, dass deshalb im ganzen Deutschen Reich Synagogen und jüdisches Eigentum angezündet und zerstört würden. Tief betroffen und entsetzt spricht sie mit ihrem Mann darüber. Der ist ernst, sehr ernst, und berichtet ihr von Dingen, die nicht in der Zeitung stehen. Von Andersdenkenden, die man in Lager sperre zum Beispiel. Es arbeitet in ihr.

Heidi Kabel war durch ihre Rollen am Ohnsorg-Theater weit über Hamburg
hinaus berühmt. Viele Stücke wurden im TV übertragen.
Heidi Kabel war durch ihre Rollen am Ohnsorg-Theater weit über Hamburg hinaus berühmt. Viele Stücke wurden im TV übertragen. © Teutopress

Sie grübelt und grübelt. „Hans, ich will raus aus dem Verein“, sagt sie ihm und dass sie mit diesen Leuten nichts mehr zu tun haben wolle. Durch ihren Austritt aus der Frauenschaft wolle sie ihren Protest zum Ausdruck bringen. Sie fragt ihn, ob sie das denn dürfe, austreten. Hans antwortet leise und bedacht.

Seine Worte hält sie später in ihrem Buch „Manchmal war es nicht zum Lachen“ fest: „Vielleicht hast du das Recht, deinen Austritt zu erklären, aber was dann kommen wird, hat mit dem Recht, das du zu haben glaubst, nicht mehr viel zu tun. Du wirst vielleicht für einige Zeit verschwinden, verhört werden, aber auf jeden Fall Arbeitsverbot bekommen, man wird uns die Existenzgrundlage nehmen.“ Hans bleibt also in der NSDAP, Heidi in der NS-Frauenschaft. Der Krieg bricht aus, ihre Kinder werden geboren, das Leben nimmt seinen Lauf.

Nach dem Krieg sagt man ihr, dass sie beide aufgrund ebenjener Mitgliedschaften suspendiert werden, Heidi hält die Familie durch Auftritte mit dem Schifferklavier über Wasser. Und während sie so durch die Lande tourt, geht ihr ein Gedanke nicht aus dem Kopf: Warum erhalten sie und ihr Mann das Auftrittsverbot nicht schriftlich? Das Ehepaar Kabel sucht den zuständigen Besatzungsoffizier auf, der ihnen mitteilt, dass mitnichten eine Auftrittssperre verhängt worden sei. Sie könnten sofort weiterarbeiten.

Beide kehren also zurück, dürfen wieder spielen und bleiben dem Ohnsorg-Theater sozusagen lebenslang verbunden: Auch ihre Tochter Heidi Mahler macht dort später Karriere, Hans Mahler wird 1949 Leiter des Theaters; Heidi bleibt mehr als 66 Jahre lang der Bühne treu. Erst im Alter von 84 Jahren nimmt sie zu Silvester 1998 ihren Abschied. Eine Legende, die die Bühne verlässt. Doch 92-jährig steht sie noch einmal in dem Film „Hände weg von Mississippi“ vor der Kamera – an der Seite ihrer Tochter Heidi Mahler. Heidi Kabel, die nicht nur als Schauspielerin, sondern auch als Sängerin bekannt wurde, stirbt am 15. Juni 2010. Wie sie einst sang: „In Hamburg sagt man Tschüss.“


Rahel Liebeschütz-Plaut: Die Medizin-Pionierin musste fliehen

Eigentlich hat Rahel Plaut kaum eine Möglichkeit, Ärztin zu werden. „Frauen und Juden hatten zur damaligen Zeit keine großen Chancen auf eine Unikarriere“, sagt Doris Fischer-Radizi. Doch Rahel geht ihren Weg. „Sie wird die erste habilitierte Ärztin Hamburgs und die dritte Deutschlands“, unterstreicht die Medizinerin, die eine Biografie über Rahel Liebeschütz-Plaut geschrieben hat.

Rahel, 1894 geboren, wächst in Hamburg in behüteten Verhältnissen auf. Die Familie ist ausgesprochen angesehen, Rahel das jüngste von vier Geschwistern. Schon als Kind interessiert sie sich für Medizin. Nach dem Abitur studiert sie ab 1913 Zoologie und anschließend Humanmedizin in Freiburg, Kiel und Bonn.

Anschließend zieht sie 1918, das Staatsexamen in der Tasche, nach Hamburg und beginnt im Israelitischen Krankenhaus zu arbeiten. Von Oktober 1918 an ist sie im Krankenhaus Eppendorf tätig. Dort wird ihr ein Jahr später gekündigt, um den heimkehrenden Soldaten Platz zu machen. Der Leiter des Physiologischen Instituts am UKE bietet ihr eine Assistentenstelle an. Dort habilitiert sie sich 1923 als erste Frau an der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg.

Rahel Liebeschütz-Plaut habilitiert 1923 als erste Frau an der Medizinischen
Fakultät der Universität Hamburg. 1938 wird sie vertrieben.
Rahel Liebeschütz-Plaut habilitiert 1923 als erste Frau an der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg. 1938 wird sie vertrieben. © HA

Regen Kontakt hat sie in dieser Zeit zu dem jungen Historiker Hans Liebeschütz, verliebt ist sie auch – und zwar in ihn. Doch ihre Eltern haben einen anderen Mann für sie auserkoren, einen Mediziner aus Berlin. Die Hochzeitsvorbereitungen laufen – und die kreuzunglückliche Rahel hadert mit sich. Sie will diesen Mann nicht heiraten, sondern ihren Hans! Aber kann sie die Eltern enttäuschen?

Schließlich fasst sie sich ein Herz und gesteht: Nicht den Berliner Mediziner liebt sie, sondern ihren Jugendfreund, den Historiker Hans Liebeschütz. Den und nur den will sie heiraten. Ihre Eltern sind einverstanden. „Ich finde das bemerkenswert, denn es war ja eigentlich schon alles festgezurrt“, merkt Fischer-Radizi an. Rahel darf also ihren Hans heiraten, sie ist glücklich und schenkt drei Kindern das Leben.

Doch dann ziehen dunkle Wolken auf: Als Jüdin wird ihr 1933 die Lehrerlaubnis entzogen. In jener Zeit muss sie auch erleben, dass sich ihr Umfeld immer mehr von ihr distanziert. Vom Vater hat Rahel gelernt, eine selbstbewusste Jüdin zu sein. Den Angriffen begegnet sie erhobenen Hauptes. Doch auch die Kinder werden angefeindet. Rahel und ihr Mann sind besorgt. Ob es eine Zukunft für ihre Kinder gebe in Deutschland, überlegen sie. Aber sie hängen doch so an ihrem Zuhause! Außerdem ist da die Frage, wohin sie überhaupt gehen sollten. Welches Land würde sie aufnehmen, von was würden sie dort leben können?

Vielleicht, denken sie, beruhigt sich die Situation ja, vielleicht wird alles wieder gut. Doch nichts wird wieder gut. Rahel und Hans akzeptieren, dass es wohl besser ist, zu gehen, und bereiten ihre Ausreise vor. „Das war kein einfaches Unterfangen, sie mussten präzise Vermögensangaben machen, maximal drei Prozent ihres Vermögens durften sie mit nach England nehmen“, sagt Doris Fischer-Radizi. „Das wollten sie sich aber nicht gefallen lassen und haben Geld und Schmuck in ihre Kleider eingenäht.“

In der Reichspogromnacht werden sowohl Hans Liebeschütz als auch Rahels Bruder Hubert Plaut und ihr Schwager Moritz Sprinz verhaftet. Der Termin für die Emigration ist für den 21. Dezember angesetzt, elf Tage zuvor wird Hans Liebeschütz aus dem KZ Sachsenhausen entlassen. „Er wollte aber noch in Deutschland bleiben, weil er seine jüdischen Studenten nicht im Stich lassen wollte“, sagt die Hamburgerin.

Rahel fährt also mit den Kindern vor, im März 1939 folgt Hans ihr nach. „Es war für sie nicht leicht, in England Fuß zu fassen, sie mussten ja wieder ganz von vorne anfangen“, sagt Doris Fischer-Radizi. „Aber als sie nach dem Krieg das Angebot bekamen, nach Hamburg zurückzukehren, lehnten sie ab.“

Denn inzwischen haben sich die Kinder eingelebt, Hans Liebeschütz lehrt an der Universität von Liverpool. Und Rahel arbeitet ehrenamtlich in der Altenpflege. „Noch mit 90 Jahren hat sie Essen für Menschen ausgefahren, die sogar jünger waren als sie selbst“, bemerkt die Medizinerin bewundernd.

Im Alter von 95 Jahren reist sie als Ehrengast nach Hamburg, das ist 1989, denn in Eppendorf findet die 100-Jahr-Feier des Krankenhauses statt, an dem sie einmal gearbeitet hat. Und da erhält sie auch eine Entschuldigung für all das Unrecht, das ihr erfahren ist, diese erste habilitierte Ärztin Hamburgs, die aus der Hansestadt vertrieben wurde und sich in England ein neues Leben aufbaute.