Hamburg. Die Stadt übernimmt die Anteile für 25.600 Euro – ein Schnäppchen. Und trotzdem ist es nur eine formale Änderung.

Der Regen prasselt heftig auf die Dachfenster, unaufhörlich und vor allem: ziemlich laut. Bei einem gebotenem Abstand von rund anderthalb Metern zu allen Gesprächspartnern ist es im weitläufigen Foyer der Theaterfabrik Kampnagel bisweilen eine akustische Herausforderung, der Unterhaltung zu folgen. Auf jeweils einem eigenen Sitzquader, auf denen sonst das Publikum vor und nach den Vorstellungen trinkt und lacht und quatscht, verteilen sich Theaterchefin Amelie Deuflhard, Kultursenator Carsten Brosda und Norbert Aust, Präses der Hamburger Handelskammer, im Raum.

Ob man dieses Gespräch vor 30 Jahren, als der Kampnagel-Trägerverein gegründet wurde, so hätte führen können? Oder vor 38 Jahren, als freie Theatergruppen die Hallen einer ehemaligen Maschinenfabrik, die nach einer Zwischennutzung durch das Schauspielhaus abgerissen werden sollte, mit einem eigenen Kunst-Festival besetzten? Vermutlich nicht. Eine solche Kombination wäre zwar auch damals schon denkbar gewesen – aber es hätte wohl durchgeregnet.

In der Theaterlandschaft bisher eine Art Zwitterwesen

Kampnagel (das zwar weitgehend wasserdicht, aber immer noch baufällig ist und einer umfassenden Sanierung entgegen sieht) hat eine bemerkenswerte Strecke zurückgelegt seither und ist sich in seiner manchmal anarchischen, manchmal unbequemen, oft avangardistischen, meist unkonventionellen Art doch treu geblieben.

„Wir wollten immer den staatlichen Einfluss auf Abstand halten“, erzählt Norbert Aust, der wie sein späterer Theater-Mitstreiter Corny Littmann (Schmidt-Bühnen) zu den Anfangsakteuren der Kulturfabrik gehört. Aust war 1990 erster Vorsitzender des Trägervereins – jetzt ist er Zeitzeuge einer weiteren Wandlung: Kampnagel wird zum vierten Staatstheater der Stadt. Also, „gewissermaßen“, beeilen sich Brosda und vor allem Deuflhard klarzustellen, denn was sich ändere, sei nicht der Inhalt, sondern nur die Gesellschafterin.

Schnäppchenpreis für 25.600 Euro

Die Stadt hat – für den Schnäppchenpreis von 25.600 Euro – die Anteile der Hamburgischen Kulturstiftung übernommen, womit sich „lediglich die gesellschaftsrechtliche Form der Praxis angleicht“, erklärt der Senator, und Aust gesteht: „Ein heimlicher, über 30 Jahre alter Wunsch ist in Erfüllung gegangen.“

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Während Kampnagel in der Hamburger Theaterlandschaft immer ein Zwitterwesen war – nie so ganz Privattheater, aber auch nie so ganz Staatsbetrieb –, hatte die Stadt stets ein entscheidendes Wörtchen mitzureden: Die Geschäftsführerin und die Intendantin wurden und werden von der Kulturbehörde, beziehungsweise dem Aufsichtsrat berufen, in dem auch Vertreter der Kultur- und der Finanzbehörde sitzen.

Der nächste Schritt darf nun als ein klares Bekenntnis zur Verpflichtung verstanden werden: „Ja, dies ist ein Ort, für den wir jetzt vollumfänglich verantwortlich sind“, betont Carsten Brosda und zeigt die bereits bestehenden Analogien zu den anderen Staatsbühnen auf; das Mieter-Vermieter-Modell etwa sei vergleichbar. Auch wenn Amelie Deuflhard, die sich über die Entscheidung freut, auf nach wie vor „massive strukturelle Unterschiede“ verweist.

Aust: „Kampnagel ist ein Theater ohne Schwelle"

Denn im Grunde bildet weder der Begriff „Staat“ noch die Sparte „Theater“ wirklich ab, wofür Kampnagel steht – für andere Produktionsformen zum Beispiel, auf der Bühne, aber auch auf dem Weg dorthin: „Wir sind und bleiben ein internationales und interdisziplinäres Produktionshaus, das globale und gesellschaftliche Fragen künstlerisch und diskursiv kritisch hinterfragt. Wir wollen nicht so sein wie die anderen, und wir werden ganz sicher kein klassisches Staatstheater!“

Das erwartet in der Kulturbehörde auch niemand. „Wir brauchen vielfältige Orte“, stellt Brosda klar. Man übernehme bewusst und unverkrampft auch Verantwortung „für Stätten, die eventuell mal nerven“: „Als freie Gesellschaft brauchen wir so etwas, weil wir nur so unsere Potenziale entfalten können.“

Norbert Aust nickt: „Kampnagel ist ein Theater ohne Schwelle. Jeder kann hierher kommen. Und vor allem: Es ist kein Haus, es ist ein Ort. Man kann das hier nicht machen, es kann nur entstehen.“ In Berlin hat zuletzt das Beispiel der Volksbühne und die massiv kritisierte Berufung des mittlerweile nach Paris weitergezogenen Chris Dercon gezeigt, wie fulminant es scheitern kann, ein etabliertes Staatstheater in den freien Betrieb überführen zu wollen. „Eine behördliche Arbeitsgruppe hätte, auch in Hamburg, keine irgendwie auch anarchische Stätte erfinden können“, bestätigt Brosda. „Kampnagel ist historisch gewachsen, das ist heute eine Riesenstärke für Hamburg.“

Wie funktioniert Theater in Corona-Zeiten?

Die kulturpolitischen Rahmenbedingungen sowie die Finanzierung durch die Kulturbehörde bleiben unverändert. In einer „Corona-Arbeitsgruppe“ sitzt Kampnagel schon jetzt gemeinsam mit der Staatsoper, dem Thalia Theater, dem Deutschen Schauspielhaus und der Elbphilharmonie an einem Tisch. Die Probleme sind die gleichen: Wie ist künftig eine Branche denkbar, deren Geschäftsmodell darauf basiert, echte Menschen auf der Bühne mit möglichst vielen echten Menschen im Publikum zusammen zu bringen? Wie macht man es so sicher, dass die Zuschauer sich geschützt fühlen und das Vertrauen aufbringen zu kommen – und wie ist es trotzdem so lukrativ, dass Geld für die Kunstproduktion bleibt?

700.000 bis 800.000 Euro pro Spielzeit erwirtschaftet Kampnagel normalerweise allein über die Fremdvermietungen. Dazu gehören Konzerte und (Tanz-)Gastspiele anderer Veranstalter oder auch das Hamburger Krimifestival. „Das Vermietungsgeschäft ist aber schon jetzt bis Ende des Jahres fast komplett eingebrochen“, berichtet Deufl­hard. Es werde „natürlich andere Einnahmeerwartungen“ geben in der kommenden Spielzeit, sagt Brosda. Er macht sich keine Illusionen: „Wir haben eine Strecke vor uns, die wahrscheinlich andauert, bis wir einen Impfstoff haben.“

Kampnagel hat sein Live Art Festival verschoben

In den Arbeitsgruppen geht es nun also um Einlassideen und Ausgangsszenarien und darum, ob man die anderthalb Meter von der Schulter des Sitznachbarn oder von dessen Gesicht aus messen müsse – was wiederum Einfluss auf die Anzahl gesperrter Sitze dazwischen hat. „Die Zeit der Ärzte“ müsse nun auch mal vorbei sein, fordert dagegen Norbert Aust, der sich ein stärkeres Gewicht der Ökonomen in der Debatte wünscht. Brosda widerspricht an dieser Stelle energisch und warnt davor, dass die Menschen „zu schnell vergessen“: „Die Zeit der Ärzte ist nicht vorbei. Die Pandemie dauert an. Die Gefahr der Ansteckung ist nur kleiner, weil die Prävention bisher funktioniert hat. Darum können wir jetzt auch über Lockerungen diskutieren.“

Kampnagel hat derweil sein Live Art Festival ins kommende Jahr verschoben, Projekte im öffentlichen Raum allerdings soll es noch im Mai geben. Deutlich komplizierter wird es mit dem fertig geplanten Sommerfestival und der nächsten Saison. „Wir haben viele verschiedene Strategiepläne, wir können ja nur mit Hypothesen arbeiten“, erklärt die Intendantin und zuckt mit den Schultern.

Die letzte Eigenproduktion war „The Nose“

Vernetzung ist in diesen Zeiten keine Trendvokabel. Relevant ist ja nicht nur der Abstand der Zuschauer oder der Performer zueinander – es stellt sich auch die Frage, wann, aus welchen Ländern und unter welchen Bedingungen interkontinentales Reisen überhaupt möglich sein wird. Für ein international arbeitendes Produktionshaus und ein Internationales Sommerfestival (das noch nicht abgesagt ist) sind diese Punkte entscheidende Herausforderungen. In die Budgetpläne werden nun auch die Kosten für Corona-Tests integriert – „sonst müssten Gastkünstler von außerhalb ja erstmal zwei Wochen in Quarantäne“.

Die letzte Eigenproduktion, die auf Kampnagel ganz kurz vor der Premiere stand, als es zur Schließung der Bühnen kam, war „The Nose“, eine Inszenierung der Choreografin Jessica Nupen. Fertig finanziert, fertig geprobt. Die Tänzer jedoch mussten nach Südafrika zurückreisen. Die Arbeit in die kommende Saison zu verschieben, ist natürlich denkbar – würde jedoch noch einmal rund 100.000 Euro kosten. So viel wie ein neues internationales Gastspiel. Ein großes buntes Plakat mit einer enormen pinkfarbenen Nase darauf erinnert im Foyer an die Produktion. Das Regentrommeln auf dem Dach hat mittlerweile aufgehört, es ist nun besonders still auf Kampnagel. Die Leere und das Fehlen der Kunst wirkt so nur noch deutlicher.