Kreis Segeberg. In der Coronakrise fordern viele Branchen lautstark Unterstützung, auch die Kultur. Um die Kunst macht sich Jan Schröter allerdings keine Sorgen.

Allmählich ist echt wieder was los auf den Straßen. Hunderte Reisebusse fuhren letzte Woche im Protestkorso durch die City, die coronagebeutelte Branche fordert Unterstützung. Es folgte der Autokorso der Fahrschulen rund um die Alster, aus dem demselben Grunde. Auf der Reeperbahn demonstrieren coronapleitebedrohte Kiezwirte, auch sie brauchen dringend Unterstützung. Tim Mälzer weint im TV, die hohen Tiere der Autoindustrie heulen exklusiver, nämlich vor der Kanzlerin. Und bald ist bestimmt wieder Treckerdemo.

Ja, Corona betrifft uns alle, und alle wollen Geld. Nein, ich mache mich nicht lustig über Menschen, die um ihre Existenz ringen. Ich weiß auch, wie sich das anfühlt, denn ich bin freiberuflicher Autor und schreibe vor allem Drehbücher – und Dreharbeiten finden seit etlichen Monaten nicht mehr statt, folglich werden auch keine Drehbücher produziert, was wiederum schlecht ist für meine Finanzen. Ich falle also beruflich unter die Kategorie „Künstler“. Diese Aussage von Matthias Lilienthal, dem Intendanten der Münchener Kammerspiele, las ich am Freitag: „Wenn die Krise noch eine Weile dauert, haben wir eine kunstfreie Gesellschaft.“

Ich las das ausgerechnet am Freitag. Am 8. Mai, dem 75. Jahrestag des Weltkriegsendes. Damals lagen unsere Gesellschaft und unser Land nun wirklich in Trümmern. Die Lage erschien hoffnungslos, und zwar nicht bloß für ein paar Wochen, während derer man warm und trocken zu Hause zwischen Selbstgebackenem und Klopapierstapeln Netflix-Serien schaute. Haus kaputt, Strom und Heizung nur sporadisch, Lebensmittel weitgehend Fehlanzeige, so sah die Realität 1945 aus, für Jahre. Ich bin Jahrgang 58, mir blieb das erspart, aber die Geschichten darüber sind Teil meiner Kindheit.

Zum Beispiel der oft von ihr erzählte Bericht meiner Mutter, die als 18-Jährige trotz Hunger, Saukälte und fehlenden Wintermantels im November 1947 die Premiere von Wolfgang Borcherts Stück „Draußen vor der Tür“ in den Hamburger Kammerspielen erlebte – lauter Hungergerippe auf den Rängen, Elendsgestalten auf der Bühne, der Autor Borchert, vom Krieg gesundheitlich ruiniert, einen Tag vor der Premiere mit 26 Jahren gestorben. Es herrschten also übelste Bedingungen, aber es war Kunst. Von einer Intensität, die meine Mutter für die Dauer der Vorstellung Kälte und Hunger vergessen ließ.

So etwas geschah damals überall in Deutschland. Auf improvisierten Bühnen in halbzerschossenen Häusern. Vor hungrigen, frierenden Zuschauern, die als Eintrittsgeld vielleicht ein Brikett oder zwei Kartoffeln entrichteten, damit irgendein Bollerofen die Illusion von Wärme im Saal verbreitete und die Schauspieler wenigstens ansatzweise von ihrer Kunst satt wurden. Nein, unsere Gesellschaft wird niemals kunstfrei sein, denn Kunst ist kreatives Unkraut. Einfach nicht totzukriegen, deshalb ärgern sich Despoten ja auch so oft darüber. Und was sagt uns das heute? Spart das Benzin für die Autokorsos. Es gibt keine unendliche Steuergeldgießkanne. Aber Ihr seid da. Steht zusammen, räumt den Schutt beiseite, habt Ideen. Es wird wieder.