Hamburg. Festival in der Elbphilharmie ehrt Iannis Xenakis. Der Architekt und Komponist gab nichts auf Konventionen: Seine Musik, seine Regeln.
Was anderes ist Musik als ein penibel berechnetes Bauwerk aus Noten, Luft und Klang? Ein Fehler nur in der Statik und die ganze Schönheit kommt womöglich ins Wackeln und die Balance leidet. Akkorde sind oft tragende Säulen des Geschehens. Ein Kontrapunkt hat viel Ähnlichkeit mit mathematischen Formeln, Melodien sind die Ein- und Ausgänge in diese Gebäude aus Fantasie. Wer daran rüttelt oder auch nur Hand anlegt, muss schon genau wissen, wie weit er gehen kann, um nicht unversehens in Ruinen und Schuttmassen zu stehen, die niemand will oder braucht.
Wann immer Iannis Xenakis erwähnt wird, wird fast zwangsläufig das Etikett „Architekt der Töne“ auf die Erinnerung an ihn montiert. Der Grieche gehört zu den faszinierendsten Einzelgängern in der an Eigenbrötlern nun wirklich nicht armen Musik des 20. Jahrhunderts. Während andere – Boulez, Stockhausen, Nono – die Aufmerksamkeit clever erarbeiteten und pflegten, blieb Xenakis, ähnlich wie der vier Jahre jüngere Jani Christou, ein Außenseiter voller Rätsel, kaum gespielt, wenig beachtet.
Auch Xenakis‘ Biografie ist außergewöhnlich
Der Verlauf seiner Biografie steht der Unberechenbarkeit von Xenakis‘ Musik nur wenig nach. 1922 in Rumänien geboren, in Griechenland aufgewachsen. Als er 1940 sein Architekturstudium in Athen beginnen wollte, brach der Griechisch-Italienische Krieg aus. Xenakis ging in den linken Widerstand, kämpfte zuerst gegen Mussolinis Truppen, wenig später gegen die Deutschen und zuletzt auch noch gegen die Briten.
Es waren die Schrapnell-Teile eines britischen Panzers, die ihm im Dezember 1944 das halbe Gesicht wegrissen; er verlor seine Freundin, ein Auge und einen Großteil seines Gehörs. Die Junta verurteilte ihn zum Tod, er floh nach Paris. Dort begann sein zweites Leben, für und mit der Musik, für und mit der Mathematik, für und mit der Architektur. Seine Verwundung, die viele sensorische Verbindungen zur Außenwelt zerstört hatte, mag ein Grund dafür gewesen sein, dass er sich in seinen Gedanken ein Paralleluniversum aus Regeln, Zahlen und Tönen aufbaute. Eine neue, eigene Welt, in der das philosophische Grübeln der Antike unmittelbar in die komplexen Klangschöpfungen einfloss.
Zwei Faktoren prägten Xenakis‘ künstlerischen Werdegang
Xenakis‘ Musik ist extrem, sehr extrem, genau das macht ihre knirschende, schroffe, brutale Schönheit aus. Sie sei mit ihrer archaischen Kraft eine „fremde Scherbe im Herzen des Westens“, so ein besonders poetischer Umschreibungsversuch. Zwei Faktoren beeinflussten und prägten Xenakis‘ künstlerischen Werdegang: Er bekam einen Fleißarbeit-Job im Pariser Büro des berühmten Architekten Le Corbusier, und er konnte mit dem Geld, das er bei Corbusier verdiente, Schüler des ebenfalls berühmten Komponisten Olivier Messiaen werden.
Der eine ließ ihn Zahlenkolonnen und Baudetails durchrechnen; der andere fragte sich, was er diesem Universalisten eigentlich beibringen sollte, der einen so ganz anderen Wissenshorizont zu bieten hatte als eindimensionaler denkende Tonsetzer. Messiaen empfahl ihm also vor allem, sein Spezialwissen in der Musik zum Klingen zu bringen.
Pure Science-Fiction-Architektur
Xenakis‘ bekanntester Bau war der Philips-Pavillon für die Weltausstellung 1958 in Brüssel, ein steil in den Himmel ragendes Stahlbetonzelt aus neun hyperbolischen Paraboloiden, pure Science-Fiction-Architektur, Heimat für ein Multimediaspektakel zur Musik von Edgar Varèses „Poème électronique“. Und was dort funktionierte und den Bau zusammenhielt, war auch die Grundlage für die Form seines folgenreichsten Orchesterwerks.
„Metastaseis“, gerade mal acht Minuten kurz (und am 30.11. mit dem RSO Berlin zu hören), hatte 1955 bei den Donaueschinger Musiktagen einen saftigen Skandal ausgelöst. Die Fachwelt und die Konkurrenten waren rechtschaffen empört, dass Xenakis nichts auf das Musik-Bau-Prinzip der damals tonangebenden Serialisten geben mochte. „Fantastisches Gehirn – aber absolut kein Gehör“, ätzte der scharfzüngige Kollege Pierre Boulez. Xenakis war das egal. Seine Musik, seine Regeln. In „Concret PH“, einem Stück für den Philipps-Pavillon, bestand das verfremdete Tonmaterial einzig aus dem Geräusch brennender Holzkohle. Bei „Synaphaï“ für Klavier und Orchester (am 1.12. mit dem RSO Berlin) erhielt jeder der zehn Finger ein einzelnes Notensystem zugewiesen, das Stück wurde mit der unvorhersehbaren Naturkraft eines Gletschers verglichen.
Anerkennung kam spät, aber sehr verdient
Dass die internationale Anerkennung erst spät erfolgte, mit Ehrungen und Aufführungen, ist wenig verwunderlich, aber sehr verdient. Im Februar 2001 starb Xenakis in Paris. Sein Werkkatalog, prall gefüllt mit Maßarbeiten, die normale Orchesterformate ignorieren, ist nichts für die heimische Stereo-Anlage, nichts für nebenbei. Man muss sie beim Hören sehen, um sie zu glauben. Verstehen? Ist nicht notwendig. Mit einem Tornado kann man auch nicht über das Wetter diskutieren.
„Schwerpunkt Iannis Xenakis“: 29.11. bis 1.12. Elbphilharmonie, u.a. mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester, dem RSO Berlin und dem Ensemble Resonanz. Evtl. Restkarten an der Abendkasse. Infos: www.elbphilharmonie.de