Salzburg. Gespräch mit Sylvain Cambreling, Chefdirigent der Hamburger Symphoniker, über Schall und Raum am Rande der Salzburger Festspiele.
Klangschwaden, die aus Lautsprechern über die Köpfe hinweg wabern und donnern wie Sternennebel-Gewitter. Auf der Bühne zwei Dutzend Instrumente, die etwas von sich geben, das wild funkelt, wie eine unberechenbare Lebensform pulsiert. Zeitgleich, auf der anderen Straßenseite, wird von Herbert Blomstedt und den Wiener Philharmonikern im Festspielhaus Mahlers Neunter Sinfonie gehuldigt. Die ist nur 58 Jahre, aber etliche Welten von jener Musik entfernt, die Sylvain Cambreling in der barocken Salzburger Kollegienkirche zu bändigen hat. Iannis Xenakis‘ Ballettmusik „Kraanerg“, 1968 komponiert, mit den Spezialisten vom Klangforum Wien und verfremdeten Zuspielungen vom Vierspurtonband, ist nach wie vor ein Extrem-Erlebnis. 75 Minuten Rätselraten, Staunen, Wundern.
Genau die Art Musik, die der noch neue Chefdirigent der Symphoniker Hamburg immer wieder erkunden will. Im Avantgarde-Aspekt der eben nicht nur manierlich klassischen Salzburger Festspiele ist er seit Jahren auf solche Spezial-Missionen abonniert. Und beim Gespräch zwischen Generalprobe und Konzert in der ruhigen Kirche erklärt er, was sein Arbeitsplatz Hamburg – bei allen kategorischen Unterschieden – von der Salzburger Denkweise lernen kann: „Die Programmierung für ein Festival ist das eine, Programmierung für eine normale Spielzeit ist etwas ganz anderes“, sagt er.
Man soll das Publikum nicht unterschätzen
„Ich habe immer zu vermitteln versucht, dass das Publikum etwas kühner werden soll. Deswegen mache ich in Hamburg zum Saisonstart ein „Pro-Log“-Konzert mit Musik von Grisey. Man soll das Publikum nie unterschätzen. In die Konzerte in dieser Kirche kommen die Menschen genau für diese zeitgenössische Musik. Sie spüren, wenn ein Ensemble engagiert spielt oder nicht. Mein Beruf ist es, dem Orchester Motivation zu geben und das aufs Publikum zu übertragen.“
99 Jahre Festspiel-Tradition hier, verglichen mit zwei Jahren Elbphilharmonie in Hamburg, das ist und bleibt ein uneinholbarer Vorsprung. Und auch bei den Spielstätten sollte man beim Zähmen eines Einhorns wie „Kraanerg“ bedenken, wo was wie möglich wäre: „Diese Musik braucht einen besonderen Raum, in einem normalen Konzertraum funktioniert sie nicht“, betont Cambreling. „Das in der Laeiszhalle aufs Programm zu setzen wäre Blödsinn.
Nach und nach die Avantgarde-Dosis steigern
„Für die Klangforum-Spezialisten, mit denen er ‘Kraanerg’ Anfang September dann bei der Ruhrtriennale aufführen wird, ist diese Musik Alltag. Das hört man sofort beim Konzert vor sehr unfestspielig gemischtem Publikum; niemand auf der Bühne zaudert, fremdelt oder fürchtet sich vor der Herausforderung. Auch das eine Lektion, die Cambreling für seine Symphoniker-Pläne nutzen will. Nach und nach will er die Avantgarde-Dosis steigern, „ich möchte Vorschläge machen und überzeugen. Wenn wir Grisey spielen, gibt es verschiedene Spieltechniken zu lernen und verschiedene Arten des Hörens. Ich habe mit Förderern der Symphoniker darüber gesprochen und sie meinten, ach, neue Musik sei für sie so schwierig… Sie haben recht! Es ist schwierig!“
Auf den Einwurf „Mozart ist auch nicht einfach“ kontert der Repertoire-Pfadfinder Cambreling: „Natürlich! Jede Musik hat ihre Fragen und ihre Geheimnisse. Nach dem ersten Jahr in Hamburg bin ich sehr zufrieden mit der Orchesterarbeit und den Reaktionen des Publikums, aber: Es ist viel zu tun.“
Bei Kaffee werden Karrieren beschleunigt
Bei den Salzburger Festspielen, die lange von seinem verstorbenen Lebenspartner Gérard Mortier geleitet und mutig in neue Bahnen gelenkt wurden, hatte sich Cambreling durch viele Opern-Erfolge mit dem Regisseur Christoph Marthaler profiliert. Das war einmal, findet Cambreling jetzt, „es ist wirklich erledigt. Oper als Kunstform liebe ich. Trotzdem hat es mich in den vergangenen Jahren mehr und mehr interessiert, im symphonischen Bereich zu arbeiten… Im Bereich Oper habe ich gemacht, was ich wollte. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, hier noch eine Oper zu machen. Ich brauche das nicht mehr.“
Wie klein und hochkonzentriert die Musikwelt im Salzburger Sommer ist, wie schnell man im Festpielbezirk bei einem Kaffee Karrieren beschleunigen kann, weiß auch Cambreling. Gerade eben ist er Ex-NDR-Chefdirigenten Thomas Hengelbrock begegnet, der einen Abend später seine „Medée“-Premiere hat, allerdings mit den Wiener Philharmonikern. Ob es auch die Hamburger Symphoniker einmal bis in den Festspiel-Spielplan von Intendant Markus Hinterhäuser schaffen könnten? „Es ist nicht unvorstellbar“, antwortet Cambreling, so vage wie diplomatisch. „Es gibt viel Potenzial in diesem Orchester, wir müssen permanent arbeiten.“
Volle Konzentration auf Hamburg
Momentan gibt es für ihn aber Vorrangigeres als die Gier nach einem Termin hier. „Ich arbeite so nicht, ich denke nicht so. Jetzt ist meine Programmorientierung für die Symphoniker Hamburg für Hamburg. Wenn Markus mich heute fragen würde, würde ich sagen: ‘Ich weiß es nicht. Ich muss noch warten.’ Aber ich würde Risiken eingehen, ein gemischtes Programm. Vielleicht ein Standardstück, um uns mit anderen zu vergleichen. Aber auch etwas, was andere vielleicht nicht spielen. Ein kalkuliertes Risiko.“
Wenige Stunden später findet das Risiko Xenakis ein Ende. Die Stoppuhr auf dem Laptop vor Cambrelings Notenpult läuft über die Ziellinie, ein letztes Winken mit der Rechten, dann verdampft das letzte Klang-Echo im Kirchenhall.
Konzert: Am 22. 9. dirigiert Sylvain Cambreling in der Laeiszhalle um 17 Uhr „Partiels“ (1976) von Grisey. Um 20 Uhr folgen Ravels „Valses nobles et sentimentales“, das Klavierkonzert Nr. 2 für die linke Hand (Solist: Roger Muraro) und „Daphnis et Chloé“.