Hamburg. Ben Becker brilliert als verzweifelt-irrer Kaiser Caligula im St. Pauli Theater. Ein intensives, unbedingt sehenswertes Stück.

Was könnte der ultimative Ausdruck für die Hybris eines Herrschers sein? „Ich habe ein Bedürfnis nach dem Unmöglichen. Dazu brauch ich den Mond“, eröffnet der römische Kaiser Caligula seinem Untertan Helicon. Als wäre es das Normalste von der Welt. Dieser Helicon ist klug, weiß um die Zerrbilder Caligulas von der Realität, richtet sich auf, lässt seinen Mantel schwingen und macht sich an die Arbeit. Was bleibt ihm auch anderes übrig.

Die Inszenierung „Caligula“, ein 1938 verfasstes Frühwerk des französischen Schriftstellers und Existenzphilosophen Albert Camus, ist in der Regie von John von Düffel und Marike Molteaux ein Glücksfall für das St. Pauli Theater, einem Haus, an dem ernste Stoffe eher selten gespielt werden. Die Produktion, die vor einem Jahr am Salzburger Landestheater herauskam, hat die richtige Dimension und findet in ihrem Purismus, der Konzentration auf den Text und einem nuanciert aufspielenden Ensemble auch die adäquate Form.

Ben Becker: Ganz in weiß mit Kunstfellmantel

In der Rolle des Caligula glänzt ganz in Weiß mit schönem Kunstfellmantel und güldenem Lorbeerkranz auf dem Blondhaar Ben Becker, ein Schauspieler, der das Publikum polarisiert, der mit dem Stück „Ich, Judas“ Kirchen und mit „Die Bibel“ Mehrzweckhallen bereiste. Im St. Pauli Theater nun zeigt er genau das richtige Maß an Zurückhaltung, wenn er als Caligula in trüben Grübeleien versinkt. Dann wieder bäumt er sich machtvoll auf und lässt furchteinflößend seine über die Jahre gerostete Stimme schnarren. Tatsächlich wirkt das zu keiner Zeit künstlich, manieriert oder aufgesetzt. Er ist das Zentrum des Geschehens, eher ein moralisch verzweifelter desillusionierter Denker als ein irrer Tyrann. Und das ist das eigentlich Gefährliche an ihm. Nicht das Dämonische, sondern das Kalkulierende.

Nach dem Tod seiner Schwester, mit der ihn ein inzestuöses Verhältnis verband, wird für Caligula die Macht über Leben und Tod seiner Untertanen zu mehr als nur einem Gedankenspiel und man kann Becker dabei zusehen, wie er all das sehr genau durchdringt: Das Nichts, die Sinn- und Gottlosigkeit.

Caligula: Am Ende ist alles ein Gemetzel

Es ist die Absurdität der menschlichen Existenz, die Caligula gegen das Leben selbst rebellieren lässt. „Die Welt ist ohne Bedeutung. Wer das erkennt, erkennt seine Freiheit“, skandiert er. Der von Bühnenbildnerin Eva Musil errichtete riesige dunkle Spiegel wirft die Ereignisse direkt auf die Zuschauer zurück. Und man ist schon ganz froh, dass da ein Wassergraben in den Saal ragt, der den Zuschauerraum wie im Zoo vor diesem wilden Tier trennt.

Ein solches Glück haben Caligulas Untertanen und Gefolgsleute nicht. Der für die Staatskasse, die Macht des Geldes, aber auch die Korrumpierbarkeit stehende Patricius (Christoph Wieschke), der sich von Caligula „Liebling“ nennen lässt. Der idealistische Literat Scipio (kraftvoll: Tim Oberließen), dessen Liebe Caligula prüft, indem er seinen Vater tötet, worauf sich die poetische Liebe in kalten Hass verwandelt. Schließlich auch die erst fast mütterlich angepasste, später resignierende Geliebte Caesonia (ergeben: Nikola Rudle). Außerdem natürlich der noch in seiner Ohnmacht stolze Untertan Helicon (Komi M. Togbonou).

John von Düffel und Marike Molteaux: Feine Regiearbeit

Am Ende ist alles ein Gemetzel. Erst ein Enterben aller Untertanen, eine Verteilung von Ehren für häufige Bordellbesuche und schließlich ein Entleiben, das hier auf der Bühne nur einmal symbolhaft und dann auch unblutig stattfindet. Blutrot sind an Ben Beckers Caligula lediglich sein Lippenstift und die lackierten Fingernägel. Viel ist in den Wahn der von Camus nicht historisch angelegten Bühnenfigur hineingelesen worden. Es gilt als ein zeitloses Werk über den Totalitarismus und findet darin seine erschreckend zeitlose Aktualität.

John von Düffel und Marike Molteaux haben eine feine, sehr nuancierte Regiearbeit abgeliefert. Von Düffel, ehemals Dramaturg am Thalia Theater, ist bekannt dafür, dass er am Ursprungstext wenig ändert, aber sehr gekonnt komprimiert. Das ist auch bei dieser Fassung gelungen, die das Geschehen in 90 Minuten abhandelt.

Die Allmachtsfantasie des Nihilisten Caligula offenbart sich vor allem klanglich in der düsteren Video- und Industrial-Sound-Animation von Philip Hohenwarter und Matthias Peyker.

Der Kaiser provoziert die absolute Freiheit des Menschen, die Abwesenheit jeder Moral. Und fordert so Widerstand, Rebellion und letztlich seinen eigenen Untergang heraus. Für Camus konnte es als Antwort auf das Absurde nur die Revolte geben. „Du irrst, wenn du denkst, dass Gedichte nicht töten können“, sagt Helicon an einer Stelle. Und es ist kein Zufall, dass das Gedicht des Scipio den Titel „Das Messer“ trägt. Irgendwann fließen in der auf den Spiegel projizierten Video-Installation Zellen, Amöben, kleine Fische zu einem Strudel zusammen. Sie scheinen auf ein fernes Licht zuzusteuern, doch das bringt keine Erlösung – schließlich formen sie einen Totenkopf. Und auf einmal ist der Spuk vorbei.

Inmitten eines gelösten Ensembles nimmt ein sichtlich bewegter Ben Becker den aufbrandenden Applaus und die verdienten Bravo-Rufe entgegen. Ein unbedingt sehenswerter Abend.

„Caligula“ weitere Vorstellungen bis 13.10., jew. 19.30, So 18.00, St. Pauli Theater, Spielbudenplatz 29-30, Karten 19,90 bis 56,93 in der Abendblatt-Geschäftsstelle (Großer Burstah 18-32) und unter T. 30 30 98 98