Hamburg. Am Schauspielhaus erfand Clemens Sienknecht das Erfolgsformat „...mit anderem Text und auch anderer Melodie“.
Es ist eine dieser Erfolgsgeschichten, wie es sie am Theater nicht so häufig gibt. Wer sich am Schauspielhaus einen der Publikumsrenner „Effi Briest“ oder „Anna Karenina“ mit dem jeweiligen Untertitelzusatz „...allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“ anschaut, hat hinterher wirklich das Gefühl, einen Klassiker zur Gänze aufgenommen zu haben. Die großen Liebestragödien der Weltliteratur erlebt er jedoch verfremdet, als kurzweilige Radioshow mit Live-Musik. 1000 Romanseiten verknappt auf 20 Theaterseiten.
Ausgedacht hat sich dieses tolle Konzept der furchtlose Musiker Clemens Sienknecht. An einen so großen Erfolg – „Effi Briest“ wurde zum Theatertreffen eingeladen – hatte er niemals gedacht. „Ich rechne im Zweifelsfall immer mit dem Schlimmsten und freue mich, wenn es anders kommt. Ich denke jedes Mal, dass wir richtig baden gehen“, sagt er bescheiden. Auch wenn seine Abende die Lachmuskeln strapazieren, Sienknecht selbst ist ein eher ernsthafter Mensch – mit mehrdeutigem Blitzen in den Augen.
Es klingt schon fast nach Größenwahn
Die Grundidee kam dem Hamburger beim Genuss von Robert Altmans letztem Film „Last Radio Show“. Seither bringt er gemeinsam mit der Regisseurin, Autorin und Lebenspartnerin Barbara Bürk die Erfolgsserie auf die Bühne, als weitere Autorin ist Sybille Meier dabei. Am 28. September heißt es nun „Die Nibelungen – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“. Uraufgeführt wird erstmals direkt im großen Haus.
Das klingt schon fast nach Größenwahn. Eigentlich hat Moderator Michael Wittenborn die neue Show am Ende von „Anna Karenina“ eher im Scherz angekündigt. Gibt es Angst vor dem Scheitern mit einem dritten Idee-Aufguss? „Ach, ich bin ein Gewohnheitstier. Ich lebe mein Leben lang in Hamburg. Warum soll ich etwas Neues probieren, wenn eine Sache läuft und mir Spaß bringt?“, sagt Clemens Sienknecht mit hintersinnigem Grinsen.
In dem neuen Abend verbinden er und Bürk das klassische Nibelungenlied, die Fassung von Hebbel und auch ein wenig Wagner. „Deutscher geht es nicht“, findet Clemens Sienknecht. „Da kommt alles zusammen, Gut und Böse, Heldentum, Grausamkeit, Liebe, Sterben, wie im Märchen, das finden wir reizvoll.“ Je größer der Stoff, desto mehr Reibungsflächen bietet er dem kreativen Duo.
Erwartungen der Zuschauer unterlaufen
„Für uns sind Klassiker deshalb interessant, weil man so die Erwartungen der Zuschauer leicht unterlaufen kann. Dadurch entstehen Fallhöhen und damit Komik“, so Sienknecht. „Wir wollen nichts veralbern, wir nehmen den Stoff äußerst ernst. Durch die beiden Ebenen Radio und Klassiker können sich die Zuschauer leichter identifizieren, weil sie nicht nur Sagenfiguren, sondern auch ganz harmlosen Moderatoren bei der Arbeit zusehen.“ Auch ihm selbst helfe es, auf der Bühne zwischendurch einfach mal als er selbst zu stehen. Das nehme einiges an Druck heraus.
War „Effi Briest“ in den 1970er-Jahren angesiedelt und „Anna Karenina“ in den 1980er-Jahren wird es ästhetisch diesmal einen gewaltigen Zeitsprung geben: in eine Science-Fiction-Welt. Die Nibelungen als die Ritter des Orbits? Das passe doch alles gut zusammen, so Sienknecht. Über die Musik entscheidet das Team gemeinsam. „Ich überlege, welche Songs mich berühren, mir etwas bedeuten, mir gefallen.“ Es war anfangs nicht geplant, dass die Lieder vom Text her zur Handlung passen, aber es funktioniert.
Eingespieltes Radioshow-Team
Sienknecht genießt das eingespielte Radioshow-Team aus Ute Hannig, Markus John, Yorck Dippe und Michael Wittenborn, die wie immer auch ihre musikalischen Talente ausspielen. Als Praktikantin wird diesmal Lina Beckmann dazu stoßen – mit ihrer Blockflöte. Man hört gemeinsam Musik, singt, tanzt, spielt. Die Spieler treten sowohl als Radiofigur auf als auch als Kriemhild, Brunhild, Gunter, Hagen, Etzel und Siegfried.
Die Proben laufen anders ab als üblich. „Eigentlich sind immer alle da“, erzählt Sienknecht. Ein Prinzip, das er von Christoph Marthaler übernommen hat. Der Regisseur war und ist seit Jahren Mentor, Freund, Türenöffner zugleich. In Peter Zadeks „Andi“ sprang Sienknecht, damals noch Musikstudent, für eine immer wieder verhinderte Keyboarderin am Schauspielhaus ein. Stand neben den Einstürzenden Neubauten mit einer Begleitkapelle auf der Bühne. Später, während seines Examens, trafen sich Marthaler und Sienknecht 1993 anlässlich der Inszenierung „Goethes Faust, Wurzel aus 1+2“, die Marthalers Theater-Ruhm mitbegründen sollte.
Eigenes Talent für subtile Komik
Bis heute steht Sienknecht in den Inszenierungen des Schweizers an den Tasten, und er freut sich, dabei nicht für das große Ganze verantwortlich zu sein. Wo ein Frank Castorf mit Grenzüberschreitung arbeite, sei Christoph Marthalers Prinzip Schutz. „Er überfordert mich nicht, weil er genau weiß, was ich nicht kann“, meint Sienknecht.
Auch in Marthalers Inszenierungen ist sein eigenes Talent für subtile Komik stets spürbar. Die für die „Nibelungen“ herzustellen, ist aktuell die große Herausforderung. „Guter Humor ist eine Unterspielung und entsteht immer aus einer Fallhöhe heraus. Sie besteht aus einer großen Ernsthaftigkeit, weshalb Komödien so schwer hinzukriegen sind.“
Die Latte liegt hoch
Die Zuschauer sind aufgefordert, im Angesicht der – natürlich perfekt dargebotenen – Unzulänglichkeiten auf der Bühne im Grunde über sich selbst zu lachen. „Wir haben uns die Latte selber recht hoch gelegt und das macht die Sache nicht wirklich leichter“, sagt Sienknecht. Humor ist für ihn eine ernste Angelegenheit. „Komödien lustig hinzukriegen, ist schwierig, da haben wir es mit den Nibelungen hoffentlich leichter.“
Und was könnte nach den Nibelungen noch kommen? Vielleicht die Bibel? Das wird der letzte Satz des Premierenabends zeigen. Aber was es auch immer wird – es kommt in jedem Fall mit anderem Text und auch anderer Melodie.
„Die Nibelungen – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“ Premiere Sa 28.9., 19.30, Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13