Hamburg. Theater will in neuer Spielzeit „Widersprüche blühen lassen“. Neben Houellebecqs “Serotonin“ gibt es Tschechow, Kafka, Studio Braun.

Was so ein Perspektivwechsel doch ausmacht. Fast könnte man da auf die Idee kommen, dies wäre ein unpolitischer Ort. Einfach, weil er so schön ist. Und weil man sich, wie bei der Spielzeitpressekonferenz für die Saison 2019/2020, so in dieser Schönheit verlieren kann, wenn man ausnahmsweise von der großen Bühne des Deutschen Schauspielhauses in den Zuschauerraum hinein blickt, auf all das Rot und den Stuck und das Gold. „Es ist einfach das schönste Theater“, sagt Karin Beier, sichtlich zufrieden mit der beabsichtigten Wirkung, „wir sind auch mächtig stolz.“

Perspektivwechsel jeglicher Couleur allerdings, die will die Intendantin des größten deutschen Sprechtheaters ihrem Publikum auch beim vermeintlich gewohnten Blick auf die Bühne anbieten. Und in der kommenden Saison meint das für Karin Beier vor allem: sich auch „gefährlichen Thesen“ zu stellen, das „Unbehagen von verstörenden Meinungen auszuhalten“. Karin Beier will keinen Konsens. Sie will keine Affirmation, weil sie darin bereits eine „Tendenz zum Dogma“ vermutet. Sie möchte lieber „die Widersprüche blühen lassen“.

"Serotonin" kommt auf die Bühne

Ein Autor, mit dem sie selbst als Regisseurin die Auseinandersetzung in der Vergangenheit bereits geprobt hat, soll in diesem Herbst die Saison eröffnen: Nach „Unterwerfung“, dem großen Theatererfolg mit Edgar Selge, wird das Schauspielhaus nun auch Michel Houellebecqs neuen Roman „Serotonin“ auf die Bühne bringen. „Ein Autor, den ich sehr schätze und der mich unglaublich nervt“, beschreibt Beier ihre widersprüchliche Faszination. Inszenieren wird den Houellebecq diesmal Falk Richter, der dem Schauspielhaus mit Elfriede Jelineks „Am Königsweg“ die letzte Einladung zum Berliner Theatertreffen bescherte, Premiere ist am 6. September.

Die Intendantin selbst geht zum Saisonauftakt fremd, sie verantwortet nur einen Tag nach der „Serotonin“-Premiere den Spielzeitbeginn an der Hamburgischen Staatsoper: „Die Nase“ von Dmitri Schostakowitsch. An ihrem eigenen Haus nimmt sich Karin Beier erst im neuen Jahr dann Anton Tschechow vor: In dessen „Iwanow“ schwankt die Gesellschaft „zwischen zynischem Hedonismus und übersteigertem Moralismus“, Premiere ist am 18. Januar.

Erstaufführung eines britischen Stücks

Vorher allerdings steht, gewissermaßen als Gegengift zu Houellebecqs sexsüchtigem Chauvi-Protagonisten, die deutschsprachige Erstaufführung eines britischen Stücks auf dem Spielplan: „Anatomie eines Suizids“ der jungen und feministischen Autorin Alice Birch erzählt von Mitte Oktober an die Geschichte dreier Frauengenerationen und thematisiert unter anderem Depressionen und Selbstmord von Müttern – übrigens ein Thema, dem auch Klaus Schumacher, Leiter des Jungen Schauspielhauses, mit der One-Woman-Show „All das Schöne“ von Duncan MacMillan und Jonny Donahue in der kommenden Saison eine Bühne gibt.

Zu dem Publikumslieblingen dürfte am Großen Haus noch in diesem Jahr ein Stück gehören, in dem Frauenfeindlichkeit und Waffenfetischismus keine ganz geringe Rolle spielen: „Die Nibelungen“ – bei Barbara Bürk und Clemens Sienknecht wie gehabt „allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“. Diese neue Folge der großartig schrulligen „Radioshow“-Reihe muss angesichts des vorhersehbaren Erfolges nach „Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“ und „Anna Karenina – allerdings...“ diesmal nicht erst Proberunden im Malersaal drehen.

Kollektiv um Heinz Strunk mit wilder Mischung

Ebenfalls eine volle Hütte könnte Studio Braun dem Theater mit seinem neuen Stück bescheren: Unter dem Titel „Coolhaze“ verquickt das Kollektiv um Heinz Strunk ungeniert Kleists Racheepos „Michael Kohlhaas“ mit dem Charles-Bronson-Thriller „Ein Mann sieht rot“. Widerspruch statt Konsens? Angekündigt jedenfalls ist ein „mehrfacher Salto Mortale, eine Multiadaption, ein Action-Musical“ (Premiere: 14. März).

Ein Wiedersehen gibt es unter anderem mit dem ungarischen Regisseur Viktor Bodo, der im Malersaal „Ich, das Ungeziefer“ inszeniert hat und diesmal Kafkas „Das Schloss“ (Premiere: 22. Februar) auf die große Bühne bringt, mit Michael Thalheimer, der Bernard-Marie Koltès’ „Quai West“ als fast schon ironischen Prolog zu den heutigen Gender-Debatten zeigt (Premiere: 18. April) und Frank Castorf. Der nimmt sich Joseph Conrads Roman „Der Geheimagent“ vor, in dem nicht nur das Kalkül politischer Provokation beschrieben wird, sondern auch die Täuschung und Selbsttäuschung eigentlich sämtlicher Figuren. Zu erwarten ist ein Abend in bewährt waghalsig-kurioser Manier, bei dem man frühestens nach fünf oder sechs Stunden aus dem Theater wanken dürfte.

"Stalker" im Malersaal

Die Malersaal-Saison eröffnet am 8. September ein Abend nach Andrei Tarkowski und Arkadi und Boris Strugatzki: „Stalker“ in der Inszenierung des jungen Regisseurs David Czesienski, der damit sein Schauspielhaus-Debüt gibt. Zu den Höhepunkten der Malersaal-Planung gehört außerdem die Bestselleradaption „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ nach dem eindringlichen Antikriegsroman des israelischen Schriftstellers David Grossmann. Dušan David Pařízek kehrt mit dieser Arbeit ans Schauspielhaus zurück, es ist seine erste Hamburger Arbeit in der Intendanz von Karin Beier. Am Wiener Burgtheater hatte Pařízek bereits den Grossmann-Stoff „Kommt ein Pferd in die Bar“ umgesetzt.

Die „bissigste und böseste Satire“ habe indes die junge deutsche Dramatikerin Nora Abdel-Maksoud geschrieben, schwärmt Schauspielhaus-Chefdramaturgin Rita Thiele: „Café Populaire“, in dem „die Pointen in alle Richtungen abgefeuert“ und „niemand geschont“ werde. „Das ist nicht nur lustig, sondern klug, klarsichtig und politisch sehr ernst zu nehmen.“ Für die Inszenierung von Sebastian Kreyer schreibt Abdel-Masoud eine Hamburger Fassung des Stückes, das in Zürich Uraufführung feierte.

Eintrittspreise steigen leicht

Das Junge Schauspielhaus unter Klaus Schumacher zeigt mit „Dschabber“ (Premiere: 11. Januar, ab 12 Jahren) unter anderem einen Beitrag zur Kopftuchdiskussion, Lukas Bärfuss’ „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ und ein neues Superhelden-Stück von Finn-Ole Heinrich und Dita Zipfel.

Die Eintrittspreise werden in der kommenden Saison moderat erhöht: Die preiswerteste Karte soll künftig bei fünf Euro liegen, die teuerste Premierenkarte bei 74 Euro – womit sie in etwa so viel koste wie die günstigste Kategorie im Tina-Turner-Musical, wie der Kaufmännische Geschäftsführer Peter F. Raddatz nicht frei von Süffisanz bemerkte.

Es ist eben immer alles eine Frage der Perspektive.