Hamburg. Gilla Cremer und Rolf Claussen in den Hauptrollen von “Was man von hier aus sehen kann“. Ein Probenbesuch.

Es ist Probenzeit im Logensaal der Kammerspiele. „Der Bus. Martin, der Bus!“, ruft Gilla Cremer. Das öffentliche Gefährt soll die Figuren Luise (gespielt von Cremer) und ihren Jugendfreund Martin (gespielt von Rolf Claussen) ins Nachbardorf bringen. Regisseur Dominik Günther rückt seine Schirmmütze zurecht und gibt mit tiefer Stimme Anweisungen vom Regiepult aus. In der Schwärze der nahezu leeren Bühne formen sich die Worte der Schauspieler zu einer Erzählung, zu einer Kindheitsfreundschaft. Gestenreich probieren die beiden eine Szene, in der es um den Aberglauben geht. Sie wechseln die Positionen, während Dominik Günther Musik einspielt. Das Timing ist alles bei diesen Dialogen, die sich Schlag auf Schlag ergänzen müssen, noch sitzt das Tempo nicht.

Aber es sind ja noch einige Probentage, bis „Was man von hier aus sehen kann“ die neue Saison an den Kammerspielen eröffnet, die Bühnenadaption des Erfolgsromans von Mariana Leky. „Ich habe ja schon viele Romane adaptiert“, erzählt Gilla Cremer, „aber noch keinen, der so schwer zu knacken ist, weil es hier eben keine einfache, stringente Geschichte oder ein greifbares Thema gibt.“

Große Fragen von Leben und Tod

Es ist auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Stoffwahl für die Hamburger Theatermacherin und Schauspielerin. Im vergangenen Jahr feierte Gilla Cremer ihr 30. Bühnenjubiläum. In den Soloproduktionen ihres „Theaters Unikate“ griff sie eigentlich immer politische Frauenfiguren auf – als KZ-Aufseherin in „Die Kommandeuse“ oder alleinerziehende Mutter in auswegloser Lage in der Literaturadaption „Meeresrand“.

Lekys Roman erzählt aus der Sicht der zunächst zehn-, am Ende 30-jährigen Luise von einer Dorfgemeinschaft; es ist eine Geschichte, hinter der sich große Fragen von Leben und Tod verbergen. Zusammengefasst von einer jungen, zugleich altklugen Beobachterin, deren Eltern mit sich selbst beschäftigt sind und die in ihrer Großmutter Selma und deren Freund eine Ersatzfamilie findet.

Gemeinschaft lohnt sich

Schon in ihrem vergangenen Stück „Freundschaft“ ging es Gilla Cremer um die Bedeutung des Miteinanders. „Was können wir einer Zeit der Krisen, in der Beziehungen immer fragmentierter und komplizierter werden, entgegensetzen? Worum geht es eigentlich?“, fragt Gilla Cremer. „Das Buch setzt da ein ganz klares Zeichen, indem es sagt: Gemeinschaft lohnt sich. Es lohnt sich, dass wir uns gegenseitig in unserer Andersartigkeit akzeptieren.“

Die Textfassung entstand in mühsamer Arbeit und vielen schlaflosen Nächten. Der Roman ist ganz aus Luises Per­spektive erzählt, aber Cremer und Claussen treten gleichermaßen als Erzähler auf. Mit Regisseur Dominik Günther hat Gilla Cremer bereits drei Inszenierungen erarbeitet. Der Text, so findet er, habe viel Tiefgang und Liebe, aber auch Humor. Es gehe nun darum, diese verschiedenen Emotionen zusammenzubringen. „Man kann nur gerührt sein, wenn man vorher auch mal gelacht hat.“

Moderne Großstädter im Selbstoptimierungszwang

Cremer und Günther wollen „gute Geschichten“ erzählen. Cremer allerdings ist noch etwas anderes wichtig: „Wir alle wissen, dass wir morgen tot sein können. Wenn wir dann eine große Gefahr überlebt haben, sind wir dankbar, nehmen uns vor, uns mehr zu spüren, uns mehr zu freuen an der Schönheit der Welt. Und drei Tage später ist das vergessen“, beklagt sie.

In dem Stoff blitzt auch die Anstrengung moderner Großstädter in ihrem Selbstoptimierungszwang auf. Für Gilla Cremer hat das nicht notwendigerweise mit Dorfidyll zu tun. Ein Aspekt, bei dem Kritiker dem Roman eine gewisse Süßlichkeit, manche sogar Kitsch bescheinigten. „Dieses Dorf ist ja auch eine Herausforderung für all diejenigen unter uns, die mit der Stadt zunehmend weniger klarkommen und sich mehr Ruhe und Natur wünschen. Ein Sehnsuchtsort. Und jeder von uns wünscht sich doch einen Fels in der Brandung, wie Großmutter Selma es ist.“

Die Figuren fragen sich, was sie noch erledigen müssen. Sie machen die Erfahrung, dass alles zusammenhängt, sie alle miteinander verbunden sind. Und auch Gilla Cremer beschäftigt diese Frage. Im vergangenen Jahr hat sie anlässlich ihres 30. Bühnenjubiläums all ihre Stücke noch einmal gespielt. An vielen gesellschaftlichen Dingen hat sie sich abgearbeitet. So sehr, dass es jetzt noch einmal ganz grundsätzlich wird.

„Was man von hier aus sehen kann“ Premiere 5.9., 19.30 (ausverkauft), weitere Vorstellungen 8., 12.–15., 18.–21., 25.9., Hamburger Kammerspiele, Hartungstraße 9–11, Karten ab 24,- in der HA-Geschäftsstelle, T. 30 30 98 98