Berlin. In der Elbphilharmonie spielt der Pianist den Zyklus. Ein Gespräch über Komponist, Flügel und Fluch des Beethoven-Jahrs.

Für die 32 Klaviersonaten, die Beethoven schrieb, wird gern der Begriff „Zyklus“ verwendet. Das trifft es ganz gut – denn sobald der Mensch, der sich an diese Musik wagt, mehr oder weniger heil am Ende von Opus 111 ankommt, könnte er sofort wieder von vorn damit beginnen, sich den unbewältigten Herausforderungen dieses Marathons zu stellen. Um dann, auf hoffentlich höherem Niveau als beim ersten Mal, dem Scheitern, der Ekstase und anderen Extremerfahrungen sehr nahezukommen.

Der Pianist Igor Levit nimmt diese Herausforderung nun an: Nachdem er 2013 die letzten fünf auf CD veröffentlicht hatte, folgten ab 2017 die anderen 27. Er wird sie, beginnend im September und über zwei Spielzeiten verteilt, in der Elbphilharmonie spielen. Und beim Interview-Termin im Berliner Büro seiner Plattenfirma wird es schnell grundsätzlich.

Fangen wir einfach an: Welche ist Ihre Lieblingssonate?

Igor Levit: Alle plus „Waldstein“ und Hammerklavier“.

Die beiden letzten sind zwei der 32 Sonaten.

(grinst) Alle plus „Waldstein“ und „Hammerklavier“.

Die nächste einfache Frage: Was kann mir Beethovens Musik heute sagen?

Levit: Darauf habe ich keine Antwort. Ich kann nur sagen, was sie mir sagt: Für mich ist sie der glaubwürdigste und natürlichste Wegbegleiter des Selbstverständnisses, des sich Aufgehobenfühlens. Sie ist das Zentrum meines künstlerischen Lebens – aber was sie euch sagen muss, ist nicht an mir zu entscheiden.

Was kann mir Beethovens Musik nicht sagen, obwohl seine 32 Sonaten gern als „das Neue Testament der Klavierliteratur“ bezeichnet werden, also als das Heiligste, Größte und Beste seit der Erfindung des tiefen Tellers?

Levit:Sie wird nicht die Welt retten. Und sie wird ganz sicher nicht sagen, wie man die Welt retten soll. Sie wird nicht sagen, wie man zu einem besseren Menschen wird. Das liegt schon an uns allein.

Funktionieren speziell die Sonaten ohne ein Publikum, das sich auskennt und mitdenkt?

Levit:Nein. Aber keine Musik funktioniert ohne Publikum und ohne Ausübenden. Wie denn auch?

Reinsetzen – zuhören – gehen – Abendessen. Viele machen das so.

Levit:Das ist mir zu einfach. Es liegt am Ende auch an mir, Menschen aufzufordern und zu bestärken, einen Raum zu schaffen, in dem man es nicht mehr schafft, eine Egal-Haltung einzunehmen und danach ins Bett zu gehen. Die wenigsten wollen das. Aber: das Publikum ernst zu nehmen, es aufzuwecken – das liegt schon sehr an mir.

Warum sollte ich mir die Beethoven-Sonaten anhören und nicht, sagen wir: frühen Schumann oder frühen Mozart?

Levit:Was für eine Frage … Natürlich sollst du dir auch frühen Schumann und frühen Mozart anhören. Und diese Sonaten, weil es unbeschreiblich inspirierende, unglaublich geile Musik ist. Ganz einfach. Alles, was ich tun kann, ist dazu einladen.

Wie notwendig ist Vorbereitung auf einen Abend mit Beethoven-Klaviersonaten? Muss ich mich mit der Themenverarbeitung und der Harmonik auseinandersetzen, bevor das Konzert beginnt?

Levit:Natürlich musst du lernen, so viel du kannst, wenn du kannst. So einfach wie heute war es schließlich noch nie. Jeder hat mindestens ein Telefon mit Bildschirm. Zugang ist leicht. Ich könnte eine Stunde vor dem Konzert breit und weit erzählen, wie die Fugenumkehrung im Finale der Hammerklaviersonate aussieht und was da passiert. Dann kommt das Konzert, die Sonate kommt in der zweiten Hälfte, 40 Minuten bis zum Finale, weitere fünf bis zur Stelle – an einer Hand lässt sich zählen, wie viele sich dann noch an meinen Vortrag erinnern werden. So etwas ist eine Einladung – verändert aber nicht das essenzielle Erlebnis, wenn diese Musik auf einen heraufgesprungen kommt.

Wie kam es zur Idee, alle 32 Beethoven-Sonaten aufzunehmen?

Levit:Den Zyklus habe ich zum ersten Mal in der Düsseldorfer Tonhalle gespielt, 2015/16. Der Vorschlag war 2010 gekommen. Ähnlich war es mit den Aufnahmen: Das erste Gespräch darüber hatten wir 2012 in Essen, damals habe ich gesagt: Meine erste Aufnahme wird Beethoven, damals waren das die letzten fünf Sonaten. Dann wurde ich gefragt: Wann nehmen wir alle auf? Meine Antwort: Wenn sie da sind. Dann habe ich sie nach und nach erarbeitet, und 2017 haben wir uns gesagt, jetzt machen wir das. Die letzten fünf wollte ich nicht noch mal aufnehmen, weil ich das nicht sehe.

Die Frage „Braucht die Welt eine weitere Gesamtaufnahme?“ ist zugegebenermaßen rhetorisch, aber dennoch …

Levit:Das ist eine dieser Feuilleton-spricht-mit-Feuilleton-Fragen … Ich brauche. Ich möchte das gern, und ich bin beschenkt mit Partnern und Freunden, mit denen ich das machen kann.

Gab es einen Punkt, bei dem klar war: Ab jetzt macht es Spaß?

Levit:Von Anfang an. Aber mir macht Aufnehmen sowieso irrsinnig Spaß.

Basteln, Feilen, einen Takt von hier nehmen und vier von dort?

Levit:Sehr viel geht in einem Schwung durch. Ich mache mindestens drei, vier Durchläufe pro Stück. Die erste Aufnahme war 2012 in Berlin, danach haben wir in Neumarkt aufgenommen, im Reitstadel. Und dann wurde der ehemalige Beethoven-Saal im HCC in Hannover frei, dort sind die Schubert-Platten von Kempff entstanden. Das war einfach ein Traum …

… und immer der gleiche Flügel?

Levit:Das war mein Flügel, ja. Dann haben wir es gegenüber meinem alten Gymnasium, schräg gegenüber meinem Lieblingscafé, 300 Meter Luftlinie von zu Hause und der Hochschule in Hannover aufgenommen.

Noch eine Feuilleton-Frage: Wir haben 2019, 2020 ist Beethoven-Jahr. Und ich habe fast das Gefühl, ich kann ihn bereits jetzt nicht mehr hören. War es Absicht oder Versehen, dass die Gesamtaufnahme schon jetzt herauskommt?

Levit:Das war kein Versehen. So viel Segen dieses Beethoven-Jahr ist – es ist auch ein totaler Fluch. Weil sehr viele sich darüber Gedanken machen, wie und warum Beethoven. Andere sagen aber einfach: Toll, jetzt spielen wir einfach seine Stücke und kümmern uns um nichts anderes. Das ist schwierig. Ich versuche das, was wir tun, anders zu erzählen. Mehr kann ich auch nicht machen.

Was ist denn an diesem Zyklus anders?

Levit:Diese Antwort überlasse ich wirklich anderen.

Ist jetzt die richtige Zeit für Beethoven?

Levit:Es ist immer die richtige Zeit für Beet­hoven.

Gibt es einen politischeren Komponisten als ihn?

Levit:Klar gibt es die. Gibt es grundsätzlichere? Da wird‘s schon enger.

Käme Beethoven jetzt leibhaftig durch die Tür, was wäre die dringlichste Frage an ihn, seine Sonaten betreffend – abgesehen von: Wäre das nicht einfacher gegangen?

Levit:Na ja, in der Fuge der Hammerklaviersonate gibt es diese eine Stelle, da würde ich ihm sagen: Ernsthaft, wirklich jetzt? Schnelle Sechszehntel mit dem Daumen runter? Das kann ich nicht. Da würde er wahrscheinlich antworten: dein Pech. Und das wäre auch die richtige Antwort.

Der Zyklus passiert über zwei Spielzeiten verteilt in der Elbphilharmonie, in Luzern und in Stockholm. Warum Elbphilharmonie, das ahne ich, aber dennoch: Wie kam es dazu?

Levit:Vertrauen. Es liegt an der engen Verbindung zu ProArte-Geschäftsführer Burkhard Glashoff, wir kennen uns seit ewig und drei Tagen aus Hannover. Vertrauen und Freundschaft, lang angewachsen. In unserem Betrieb ist er schon ein ziemlich einzigartig guter Mensch. Und ich finde den Raum für Solo-Abende einfach wahnsinnig, einfach toll. Weil der so schnell und so unkompliziert, so flexibel ist. Das macht mich unglaublich froh.

Rein theoretisch könnte man alle Sonaten an mehreren Abenden hintereinander aufs Programm setzen, als Beethoven-Druckbetankung.

Levit:Dann wird das zu einer Sportveranstaltung, das habe ich nicht gewollt.

Gibt es eine Überlegung für ein Leben nach Beethoven?

Levit:Ja. Ein bisschen Angst. Weil das sehr prägend war.

Und wenn ich den Namen Mozart erwähne?

Levit:Hier und da spiele ich ja seine Klavierkonzerte. Ich fühle es aber nicht, die Sonaten zu spielen. Da sehe ich mich gerade nicht. Was aber nicht an den Sonaten liegt, sondern an mir.

Wie war die theoretische Vorbereitung auf den Beethoven-Marathon: seine Konversationshefte sichten, Biografien, etc. pp.?

Levit:Das habe ich alles schon als Student gelesen. Das ist in mir drin. Es gab keine Extravorbereitung, außer Leben, Nachdenken, Sein und Spielen.

Gab es jemals eine Überlegung, ein anderes Instrument zu nehmen als den großen …

Levit:Nein. Es gab meinen Flügel und über den geht gar nichts.

Nie in Versuchung gewesen, ein historisch korrekteres Klavier als einen modernen Steinway-Flügel zu spielen?

Levit:Das habe ich mal versucht. Ich weiß, was ich kann, und ich weiß auch, was ich nicht kann. Und andere können das besser. Und ich könnte es auch nie. Der Historie wegen brauche ich nicht auch einen historischen Flügel.

Die beethovensonatenfreien Engagements der nächsten Monate, sind die Ausgleich oder Gegengift?

Levit:Sie haben sich so ergeben. Ich spiele jetzt diese Zyklen und werde mich in anderthalb Jahren, wenn ich damit durch bin, wahrscheinlich im Keller einsperren, etwas weinen und fröhlich wieder herauskommen.

Oder fürchterlich langweilen.

Levit:Langweilen werde ich mich ganz sicher nicht.

Kann man, nach 15 Jahren Beschäftigung mit dieser Musik, von sich behaupten: Ich verstehe sie jetzt?

Levit:Sie gehört mir ja nicht. Sie gehört niemandem. Und gleichzeitig uns allen. Ich kenne sie nun sehr gut und verstehe, was ich machen möchte. Andererseits entfernen sie sich immer von mir, deswegen will ich sie ja immer wieder spielen.

Was macht die lange Festlegung auf diesen einen Komponisten Beethoven mit einem Künstler, der auf so vieles und so viele neugierig ist? Ist diese Fixierung auch heilsam?

Levit:Die mag ich. Gleichzeitig habe ich meine Antennen überall, das gibt mir auch Halt. Das hält mich wach. Mit Beethoven fällt mir das nicht schwer.

Beethovens Hammerklaviersonate und nicht schwer!? Ich habe noch keinen Pianisten gesehen, der danach nicht auf der Felge war.

Levit:Ich habe nicht gesagt, dass das Spielen von Beethovens Musik nicht schwer ist. Sie immer und immer wieder zu spielen langweilt mich nicht. Die Hammerklaviersonate ist das große körperlich und mentale Grenzerfahrungserlebnis, das ich für Klavier solo kenne. Mit nichts zu vergleichen, physisch und psychisch.

Ich stelle es mir extrem schwierig vor, als Interpret danach wieder in unser reguläres Universum zurückzukehren.

Levit:Es ist beinahe unmöglich. Was glauben Sie, warum ich sehr oft nach solchen Konzerten keine zwei Minuten mit dem Erzählen von Witzen reagiere? Warum wohl? Es ist auch ein Akt der Selbstrettung. Ich komme nicht graduell von 100 auf null. Sondern ich stürze von 100 auf null. Klar stehe ich auch manchmal neben mir, und ich handle dann dagegen.

Gibt es da einen Suchtfaktor?

Levit:Riesengroß, riesengroß. Wie oft führen wir Künstler mit Kollegen, Partnern und Freunden Gespräche darüber, ganz bestimmt bald kürzer zu treten. „Jaja, ich hab alles unter Kontrolle ...“ So reden Süchtige. Natürlich. Aber das ist nun mal dieses Leben. Und die Bühne ist für mich der eine große Freiheitsort. Der Ort, wo ich sein darf, was ich sein will. Mit Menschen zusammen. Ich wäre ja bescheuert, wenn ich mir das abschneiden
würde.

Der Ort, wo man verrückt werden kann, damit man es woanders nicht wird.

Levit:Genau.