Hamburg. Der weltbekannte Pianist spielte ein großartiges Konzert in Hamburg – eines, das ganz um Levits neues Album kreist.

Wir alle glauben Igor Levit zu kennen. Den kompromisslosen Pianisten, den Fußballfan, den homo politicus, allgegenwärtig dank seiner Schlagfertigkeit und Medienaffinität. Und dann das. Bei seinem jüngsten Auftritt in der Laeiszhalle in Hamburg bewegt er sich einen Abend lang gleichsam im Reich der Schatten.

Formal kreist das Programm um Bearbeitungen. Bearbeitungen bringen eine zusätzliche Perspektive in die Beziehung zwischen Komponist und Interpret, und es ist immer wieder ein hübsches Ratespiel, von wem nun welcher Anteil an der Gestaltung stammen mag. Wenn Levit etwa den Beginn der berühmten Geigen-Chaconne aus der d-Moll-Partita von Bach ganz monolithisch anlegt, ohne die Akkorde aufzufächern, dann schaut er vermutlich durch die Brille von Johannes Brahms auf das Stück. Originaler Bach klingt nämlich ganz anders bei Levit, sprachnah, graziös, fast wie ein Cembalo.

Brahms' Annäherung des Flügels an die Geige

Brahms hat sich bei der Bearbeitung klug selbst beschränkt. Zehn Pianistenfinger sind den vier Fingern, die der Geiger zum Greifen benutzt, hoffnungslos überlegen. Indem Brahms das Stück allein der linken Hand des Pianisten anvertraut, kommt es den spieltechnischen Mühen des Geigers schon etwas näher. Große Intervalle sind auch gestalterisch eine Herausforderung für den Spieler, da ist die Geige sogar einmal im Vorteil.

Levits Rechte liegt anfangs unbeteiligt auf seinem Bein, aber nicht lange, dann entfaltet sie ein Eigenleben und verrät, welche intellektuelle Selbstbeherrschung Brahms dem Pianisten abverlangt. Mal stützt sie sich am Klavier auf, dann vollzieht sie die Musik in kreisenden, streichenden Gesten nach, zwischendurch fasst sich Levit an die Stirn.

Levits Erinnerungen an einen toten Freund

Eine Chaconne ist ursprünglich ein wilder, ekstatischer Tanz. Bei Bach geht sie darüber als Kunstform weit hinaus. Generationen von Musikern haben sich angesichts der zahlreichen verborgenen Anspielungen und sakralen Anspielungen den Kopf darüber zerbrochen, ob der Komponist nicht vielmehr seiner ersten Frau Maria Barbara ein klingendes Grabmal errichten wollte.

Zu dem Abend in der Laeiszhalle passt der Gedanke jedenfalls. Das Konzertprogramm ist Levits neuem Album „Life“ entnommen, das der Pianist im Andenken an den Unfalltod eines Freundes konzipiert hat. Unter seinen Fingern wird diese Chaconne purer Ernst. Ohnehin hat Brahms sie in die tieferen Regionen der Tastatur verlegt. Levit verwendet zudem gedeckte Farben. Er lauscht den Wendungen nach, selbst den sonst so rasanten Läufen enthält er Übermut oder Brillanz vor. Und lässt das Stück am Schluss in die Tiefe fallen. Da hat Brahms nämlich einen Ton dazugeschrieben, den man auf keiner Geige findet, eher auf einem Kontrabass.

Husten und Rascheln können Levit nicht aus der Fassung bringen

Ferruccio Busoni geht in seiner Fantasia nach Johann Sebastian Bach sehr viel freier mit seinen Vorlagen um. Er öffnet die Harmonien sogleich in Richtung 20. Jahrhundert. An Bach erinnert die Musik oft nur wegen ihrer rhythmischen Struktur. Darüber aber klingen Glocken oder, wie aus weiter Ferne, Chorgesänge; Busoni schrieb die Fantasia auf den Tod seines Vaters. Ein Gewitter lässt den Flügel Fortissimo scheppern, dann wieder entmaterialisiert Levit den Klang fast vollständig. Selten hört man so viel Pedal, so bewusst eingesetzt.

Es ist nur folgerichtig, dass der Künstler das hustende und raschelnde Publikum nicht aus der Spannung entlässt. Ohne Zwischenapplaus schließt er Schumanns „Geistervariationen“ an. Die Geschichte hinter dem kurzen Stück ist erschütternd: Schumann begann in seiner unglücklichen Düsseldorfer Zeit mit der Komposition, nachdem ihm das Thema nachts im Traum eingegeben worden war – von Engeln oder auch von Franz Schubert. In der Entstehungszeit der Variationen stürzte sich Schumann in den Rhein. Wurde gerettet und setzt sich tags darauf wieder an die Arbeit. Die „Geistervariationen“ sind sein letztes Werk.

Ein Hauch von Bayreuth in der Laeiszhalle

Das sangliche Thema erinnert tatsächlich an Schubert, aber dann wendet sich die Musik in eine Stille, eine Resignation jenseits aller Worte. Levit löst das zarte Gebilde in kleinste Klangpartikel auf. Wo kommt nochmal dieser Basston her? Es spielt schon beinahe keine Rolle mehr.

Gefasster wirkt dagegen der Feierliche Marsch zum Heiligen Gral aus „Parsifal“, im Original natürlich von Wagner, in der Klavierfassung von Liszt. Straff und ohne äußeres Pathos nimmt ihn Levit, und wenn die Gralsglocken klingen, wähnt sich der Hörer tatsächlich einen Moment lang auf dem Bayreuther Festspielhügel. Das berühmte Dresdner Amen lässt Levit donnern und beben – und bringt es dann als fast unhörbare Reminiszenz. Dieser Marsch ist ein Kampf um den Glauben.

Levit findet neue Fragen – und neue Rätsel

Den Schluss macht Busonis Fantasie und Fuge über ein Choral „Ad nos, ad salutarem undam“ von Liszt. Levit leistet pianistische Schwerarbeit, vollendet souverän und ganz der emotionalen Aussage verhaftet. Über alle Unterschiedlichkeit der einzelnen Teile hinweg stellt er Zusammenhänge her, bezieht sich auf Zurückliegendes, beantwortet es, deutet es um, findet neue Fragen. Und neue Rätsel.

So groß wie dieser Abend, so groß wie das Leben.

Alle aktuellen Kritiken des Abendblatts