Hamburg. Sommerfestival auf Kampnagel und in der Elbphilharmonie: Vertanzte Utopien und bodenständiger Kunstpop.
Das Internationale Sommerfestival 2019 auf Kampnagel zählt schon vor dem Schlusskonzert am Sonntagabend rund 35.000 Besucherinnen und Besucher und damit ungefähr so viele wie 2018. Die letzte große Weltpremiere fährt noch einmal großen Tanz auf.
In acht Wochen Probenarbeit ist in Hamburg „#WTF Where There’s Form“ der kanadischen Choreografin Aszure Barton und des Düsseldorfer Musikers Hauschka entstanden. Grün-Weiße Bänder ziehen sich im Zickzack durch die große Kampnagelhalle. Die Bühne wirkt offen und hell wie selten. Im Vordergrund gibt der Musiker Volker Bertelmann, aka Hauschka, am präparierten Flügel den Takt vor. Hypnotische Rhythmen zaubert er aus dem mit Metallteilen gespickten Instrument, ergänzt um elektronische Samples und das Cellospiel von Insa Schirmer.
Zu schön, zu harmonisch
In diesem pointierten Kreiseln der Töne wirken auch die Tänzerinnen und Tänzer – zunächst weiß gewandet mit dunklen Socken, später etwas farbiger – ein wenig wie Astronauten. Sie greifen die Takte in der Tradition der Minimal Music auf, gruppieren sich immer neu zu geometrischen Formen. Ihre Bewegungen haben ihre Wurzeln im klassischen Ballett, doch darüber hinaus fügt jeder Einzelne seinem Tanz eine individuelle Note hinzu, mal ist es mehr ausufernder Hip-Hop, mal eher klassischer Modern Dance. Das hat etwas sehr Formales, Strenges und doch unglaublich Schönes.
Manchmal ist es vielleicht schon zu schön, zu harmonisch. Keine erbarmungslose Störung durchbricht das weiche Fließen der Arme und die akkurat gestreckten Beine, den wiegenden Rhythmus der Schultern. Häufig sind die Bewegungen synchron, auch mal gegenläufig, selten berühren sich die Tanzenden. Das ist aber auch sehr konsequent und ergänzt sich mit der berauschenden, manchmal den Tanz dominierenden Musik Hauschkas zum berückenden Tanz-Tableau. Barton sucht im Dialog aus Bewegung und Musik nach einem neuen Miteinander und so stellt sich tatsächlich das fast meditative Gefühl ein, hier einer getanzten Utopie beizuwohnen.
Rock-Orgasmus bricht fast aus
An diesem Tanzabend, aber auch im zentralen Musikbereich ist das Sommerfestival ohnehin eines der Verbindungslinien. Die kanadische Musikerin Peaches bespielte das Festivalgelände auf Kampnagel exzessiv – und wenige Tage später verzauberte Peaches’ langjähriger Mitstreiter Chilly Gonzales das Publikum in der Elbphilharmonie. Oder: Arcade-Fire-Bassist Richard Reed Parry absolvierte mehrere Konzerte zum New-Infinity-Videoprogramm im Planetarium. Und gastiert mit seiner Zweitband Bell Orchestre in der Elbphilharmonie.
Dort spielt das Postrock-Sextett seine jüngste Instrumentalplatte „House Music“. Ein Titel, der ironischer klingt, als er gemeint ist: Mit Kontrabass, Schlagzeug, Percussion, Violine und Bläsern schaffen die Kanadier einen an House erinnernden Klangstrom. „House Music“ besteht aus an- und abschwellenden Harmonien, bei denen man immer wieder erwartet, dass gleich ein Rock-Orgasmus ausbrechen müsste, und die dann doch immer weiter mäandern, stimmungsvoll, sanft, sperrig. Kunstpop, der durch das freundliche Understatement des Ensembles um Bassist Parry und Violinistin Sarah Neufeld bodenständig bleibt. Begleitet wird das Bell Orchestre vom Aarhus Symfonieorkester, das zuvor schon eine leidenschaftliche, an manchen Stellen vielleicht zu sehr auf den Effekt setzende Interpretation von Strawinskys „Feuervogel“ präsentiert hat. Am Pult steht bei den Dänen André de Ridder vom Berliner Kammerensemble stargaze. Und stargaze spielten dort schon vor einer Woche, mit der Sängerin Soap&Skin. Ein Festival der Verbindungslinien, zweifellos.