Hamburg. Mit neun Tänzerinnen und Tänzern probt die kanadische Choreografin Aszure Barton derzeit in Winterhude.

Es ist ein freundlicher und heller Tag in Hamburg. Auf der Probebühne des Kampnagel-Geländes probieren drei Tänzerinnen und sechs Tänzer eine Szene. Wiederholen sie wieder und wieder. „Dead Man Walking“, scherzt Jonathan Emanuell Alsberry, Tänzer und Assistent der kanadischen Choreografin Aszure Barton. Dabei sehen die Bewegungen durchaus sehr lebendig aus.

Barton steht vorne am Bühnenrand, mal liegt sie auch auf der Seite, die bunt gemusterten Socken in Sneakers übereinandergeschlagen, und man kann dabei zusehen, wie sie schaut und denkt und denkt und schaut und wie es in ihr arbeitet. Es ist schließlich ein Experiment, das hier entsteht.

Barton genießt mit ihrem handverlesenen Team luxuriöse acht Wochen Probenzeit in Hamburg, um gemeinsam mit dem Düsseldorfer Komponisten und Musiker Hauschka am 23. August die Weltpremiere von „Where There’s Form“ beim Internationalen Sommerfestival zu präsentieren. Von Erfolgsdruck ist hier wenig zu spüren. Alles geht in erstaunlich entspannter Atmosphäre vor sich. Geradezu unwirklich harmonisch für Proben dieser Art. Die Tänzerinnen und Tänzer stellen sich in Dreiergruppen auf, führen Bewegungen aus, die ihren Ursprung im Ballett nicht verhehlen und doch anders sind. Irgendwie leichter, rhythmischer. Ana Maria Lucaciu spreizt ihre Beine und streckt ihre Arme in der Mitte in einem eindrucksvollen Solo. Es wirkt, als würde sie eine Verbindung vom Boden bis zum Himmel schaffen.

Musikalisch denkende Ästhetin

Von derlei Arbeitsbedingungen hat Aszure Barton lange geträumt. Seit sie an der National Ballet School in Toronto ausgebildet wurde, hat sie bereits mit 14 Jahren ihre erste eigene Arbeit gezeigt, und bald schon weltbekannte Kompanien in Szene gesetzt: von The Martha Graham Dance Company über das Nederlands Dans Theater und die Sydney Dance Company bis zum Baye­rischen Staatsballett. Man kauft sie gerne ein. Der Ruf einer Erfolgsgarantin und eines Publikumsmagneten eilt ihr voraus. Gleichzeitig gilt sie als Form-Erfinderin und als sehr musikalisch denkende Ästhetin.

Vor zweieinhalb Jahren kam die Erfolgsverwöhnte Aszure Barton dann doch ins Grübeln. „Ich wollte nicht mehr einfach weiterproduzieren. Mich mit dem Erfolg einer Arbeit für die nächste empfehlen“, sagt Aszure Barton ehrlich.

Aszure Barton, kanadische Choreografin, probt zur Zeit auf Kampnagel WHERE THERE‘S FORM Kultur, Foto: Andreas Laible / Funke Foto Services
Aszure Barton, kanadische Choreografin, probt zur Zeit auf Kampnagel WHERE THERE‘S FORM Kultur, Foto: Andreas Laible / Funke Foto Services © Andreas Laible | Andreas Laible

Die 44-Jährige ist auch in der Probenpause, in der sie große Mengen Wasser trinkt, das Gegenteil einer Kunst-Exzentrikerin. „Ich will zurückkehren zu dem, was für mich wichtig ist. Körper, Beziehung, Dialog. Ich möchte noch besser werden, Dinge tiefer erforschen und mehr Risiken eingehen.“ Es ist ihr wichtig. Sie ist keine Choreografin, die bei einer Kompanie vorbeischaut und ihr ihren Stil aufdrängt. Ihre Tanzabende entstehen in Teamarbeit. Die Karriere im Tanz war der Kanadierin in die Wiege gelegt, wuchs sie doch als jüngste von drei tanzenden Schwestern einer ballettbegeisterten Mutter auf. Der Vater, den sie als einen „freien Geist“ bezeichnet, tanzte ebenfalls. Ausgerechnet die Hamburger Arbeit führt sie auch zurück zu ihren Wurzeln, gleich zwei ihrer engsten Schulfreundinnen sind mit dabei.

Tanz verbindet

„Where There’s Form“ nimmt sich einen Satz des Philosophen Wittgenstein zum Leitmotiv: „Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen der Gedanken.“ Die Tanzperformance soll auch eine Antwort auf eine laute, chaotische Wirklichkeit sein. „Die ganze Welt ist so verrückt gerade. Es gibt so viel Trennendes. Der Tanz kann die Menschen wieder verbinden, sie den Moment spüren lassen, verlangsamen und zur Einfachheit der Form führen“, hofft Aszure Barton. Da die Choreografin ziemlich genau weiß, was sie gut kann, will sie in Hamburg in Bereiche vordringen, die sie noch nicht kennt. Und so fällt auf, dass auf der Probe zwar ein Rhythmus den Takt angibt, ansonsten aber keine Musik läuft. Der Düsseldorfer Musiker Hauschka, der bürgerlich Volker Bertelmann heißt, probiert seinen Part separat und stößt erst kurz vor der Weltpremiere zum Team dazu.

Auch er ist ein künstlerisches Schwergewicht. Bekannt wurde er mit experimentellen Werken für präparierte Klaviere und Filmmusiken. Für die Hollywood-Produktion „Lion – Der lange Weg nach Hause“ (2016) erhielt er eine Oscar-Nominierung. Erst in letzter Minute werden Tanz und Musik auf der Bühne zum Live-Erlebnis synchronisiert. „Es ist einfach für Tänzer, sich auf die Musik zu verlassen“, sagt Barton. „Wir wollen hier aber einen wirklichen Dialog schaffen.“

In der Probe sind die Tänzerinnen und Tänzer jedenfalls ganz bei der Sache. Jonathan Emanuell Alsberry sorgt mit seinem ironischen Humor immer wieder für Heiterkeit. Und die Konzentration ist hoch, keine Wiederholung scheint zu mühsam. Präsenz, Bewusstsein und der Körper selbst, all das fließt schon sehr gekonnt ineinander. „Der Geist muss stillhalten. Der Körper ist so klug, dass er ganz im Hier und Jetzt lebt. Für mich ist das wie Meditation“, sagt Aszure Barton. In unserer Welt ein fast schon radikaler Gedanke.

„Where There’s Form“ 23./24.8., jew. 20.30, 25.8., 19.00, Kampnagel, Jarrestr. 20–24

Das Internationale Sommerfestival läuft noch bis zum 25.8.; in der dritten und letzten Festivalwoche sind unter anderem das Kollektiv Rimini Protokoll, der kanadische Musiker Chilly Gonzales, die japanische Band Kikagaku Moyo und die Stand-up-Diva Ursula Martinez zu Gast. Karten und Infos: www.kampnagel.de