Hamburg. Die 36 Jahre alte Anna Vinnitskaya ist eine international gefeierte Pianistin. Gelernt hat sie bei Evgeni Koroliov in Hamburg.

Ein früher Montagabend: Anna Vinnitskaya gibt in ihrem Studierzimmer an der Hochschule für Musik und Theater einem Klavierstudenten noch schnell ein paar Übungstipps, dann steht bereits Evgeni Koroliov in der Tür. Und das warme Lächeln, mit dem die beiden sich begrüßen, lässt keinen Zweifel an ihrer innigen Verbundenheit. Seit 18 Jahren kennen sie sich, lange hat Anna Vinnitskaya, die mit Mann und zwei Kindern in Langenhorn lebt, bei ihm studiert, bis sie 2009 zur jüngsten Klavierprofessorin Deutschlands wurde. Noch heute – längst ein Star – spielt sie ihm vor, und der bescheidene Mann mit der leisen Stimme gibt dezente Hinweise. Selbst hat Koroliov nie eine große Karriere angestrebt, für Klavierkenner ist er dennoch einer der ganz Großen, vor allem wegen seiner Maßstäbe setzenden Bach-Interpretationen.

Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung?

Evgeni Koroliov Natürlich, das war bei Annas Aufnahmeprüfung 2001 hier an der Hochschule. Ein Jahr lang war sie bei einem anderen Lehrer und kam dann zu mir. Ich erinnere mich an eine schon damals sehr gute Pianistin, an eine außerordentliche musikalische Begabung, die manches Stück allerdings noch etwas naiv und backfischmäßig spielte. Wie wir heute wissen, wurde das später ganz
anders.

Anna Vinnitskaya Ich wusste, dass Herr Koroliov ein hervorragender Bach-Interpret ist, aber persönlich kannte ich ihn nicht und war nicht sicher, ob er – ganz in der russischen Tradition – sehr streng ist. Er wurde mehr als ein Lehrer, er wurde ein Wegweiser für mich. Ich hatte große Freiheit und habe bei ihm gelernt, unabhängig zu werden. Er hat mich dazu gebracht, mich stärker als zuvor zu fragen, warum ich eigentlich spiele und was ich mit meinem Spiel sagen will. Das war mir vor der Begegnung mit ihm eher unklar. Vorher sah ich Pianistin als Beruf, bei Herrn Koroliov wurde daraus mein Leben.

Koroliov Mir geht es bis heute immer darum, nichts zu erzwingen, niemanden zu brechen, sondern vielmehr die Stärken eines Schülers zu fördern.

Vinnitskaya Mich hat es anfangs fast schockiert, dass jeder seiner Schüler einen individuellen Klang hatte. Sonst ist es ja oft so, dass die Schülerinnen und Schüler eines Professors alle ähnlich klingen und aus Russland kannte ich das auch so. Bei Herrn Koroliov eben nicht, er wurde im Unterricht auch nie laut. Manchmal reichte ein Satz, ein leises Wort, und schon war alles klar.

Sie sind seit vielen Jahren selbst Lehrerin an der HfMT. Haben Sie Ihre Lehrmethoden bei Evgeni Koroliov abgeguckt?

Vinnitskaya Ich versuche, die Studenten zu unterstützen, ihren eigenen Weg, ihre eigene Sprache zu finden – so lange es nicht gegen die Intention des Komponisten verstößt. Manche haben natürlich Probleme, sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Vielleicht üben sie zu viel, das gibt es auch, vielleicht fehlt ihnen die Lebenserfahrung. Ich weiß noch, wie ich als Ihre Schülerin mal ein Gespräch mit Ihnen hatte, Herr Koroliov, in dem Sie mir sagten, an einem konkreten Punkt drohe mir die Gefahr, mich nicht mehr weiterzuentwickeln. Das war ein wichtiger Impuls für mich.

Koroliov Daran erinnere ich mich gar nicht. (lacht)

Was müssen Schüler mitbringen?

Koroliov Die ehrliche Liebe zur Musik. Nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck. Immerhin sind Bach, Brahms oder Schubert, das Beste, was es in unserer Welt gibt. Allerdings reicht auch das nicht immer, um weit zu kommen und Karriere zu machen. Einem meiner besten Schüler überhaupt fehlte leider eine gewisse Lebensgeschicklichkeit – trotz seines enormen Talents und seines großen theoretischen Wissens endete er als Postbote...

Vinnitskaya Es gibt Studenten, die kommen mit einer Beethoven-Sonate, aber wenn sie spielen, dann höre ich nur sie, keinen Beethoven. Das liegt daran, dass sie denken, heutzutage müsse man etwas ganz Besonderes machen, um Erfolg zu haben. Das ist falsch. Der Komponist ist immer größer als der Pianist. Auch etwas, was ich von Herrn Koroliov gelernt habe.

Wie wichtig ist es, Schüler auf Klavier-Wettbewerbe vorzubereiten? Immerhin können die ja ein Karriere-Sprungbrett sein ...

Koroliov Für die Schüler sind Wettbewerbe wichtig, um an Auftritte zu kommen. Und es hat mich immer gefreut, wenn ein Schüler Erfolg hatte. Für mich selbst gilt: Ich hatte nie Interesse daran, mich auf diese Weise zu profilieren.

Vinnitskaya Sie haben zu mir gesagt: Wenn du robust genug bist, dann fahr zu einem Wettbewerb, sonst lieber nicht.

Koroliov Das stimmt. Hat man Erfolg: sehr gut. Schafft man es nicht bis ins Finale: egal. Man kann einen wichtigen Wettbewerb nicht durch Zufall gewinnen, wohl aber verlieren.

Vinnitskaya Ich mag Wettbewerbe überhaupt nicht, denn ich bin so nervös wenn ich spiele. Nach dem Gewinn des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs 2007 habe ich auch an keinem mehr teilgenommen. Als ich erfuhr, dass ich gewonnen habe, war mein erster Gedanke: Gott sei Dank, jetzt muss ich das nie mehr machen. Ich war so glücklich.

Es heißt, in den vergangenen Jahrzehnten habe das technische Niveau enorm zugenommen. Technisch perfekt spielen heute so viele ...

Koroliov Es ist schon sehr lange so, dass das technische Niveau alles aufgefressen hat. Wissen Sie, kein Mensch hat die geistige Kraft, um in jeder Hinsicht ein absoluter Künstler zu sein, um vollkommene Hingabe an die Musik mit höchsten technischen Fertigkeiten zu verbinden. Irgendetwas wird immer leiden. Ein Beispiel dafür ist Arturo Benedetti Michelangeli. Es gab bei ihm kaum einmal eine falsche Note, aber sein Spiel war nicht so spontan und tief empfunden wie etwa das von Schnabel, Kempff oder Serkin.

Vinnitskaya Das Konzertpublikum erwartet heute Perfektion, weil es durch die unzähligen CD-Aufnahmen daran gewöhnt ist. Und so kommen auch Schüler zu mir, die jede Note treffen und in dieser Hinsicht perfekt sind. Aber dabei klingt es überhaupt nicht lebendig, geradezu tot. Es ist wie in der Küche: Perfekt nach Rezept kochen ist keine echte Kunst.

Wo Sie CDs ansprechen: Wie wichtig ist es für Sie, Aufnahmen veröffentlichen zu können?

Koroliov Für Künstleragenturen ist es wichtig, CDs rausschicken zu können, aber ich höre sie gar nicht an. Zwischen Aufnahme und Veröffentlichung vergeht immer zu viel Zeit. Da bin ich längst woanders. Diese Aufnahmen haben eher Tagebuchcharakter für mich.

Vinnitskaya Ich höre meine CDs auch nicht an. Es sind nur Momentaufnahmen, wie Fotos. Aber zu Werbezwecken sind sie schon sehr wichtig. Allerdings: Ich nehme nur auf, was ich auch wirklich möchte. Ich war schon in Verhandlungen mit großen Labels, die meinten, für die „Marke“ – das haben die tatsächlich so gesagt ...! – sei es wichtig, wenn ich jetzt etwas von Bach einspiele. Dass ich damals nicht bereit dazu war, hat niemanden interessiert. Da sind wir dann nicht zusammengekommen ...

Also im Zweifel Konsequenz statt Karriere? Deshalb auch Ihr eher überschaubares Social-Media-Engagement?

Vinnitskaya Ich möchte jedenfalls nicht, dass es mir in zehn Jahren peinlich ist, was ich gemacht habe. Herr Koroliov ist auch in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel für mich und mit seiner Bescheidenheit ein Vorbild. Wie schön, ihn nach all den Jahren immer noch in meiner Nähe zu haben. Jemanden, dem es ausschließlich um die Kunst geht. Seine Frau und er sind zu einem Teil meiner Familie geworden.

Koroliov Das gilt von unserer Seite aus auch.