Hamburg. Zwei Menschen, ein Beruf. Nora Fingscheidt und Hermine Huntgeburth reden übers Filmemachen, Familien – und über Finanzen.
Hermine Huntgeburth und Nora Fingscheidt sind beide Filmemacherinnen. Huntgeburth, Jahrgang 1957, ist seit fast 30 Jahren im Geschäft und hat erfolgreich in ganz unterschiedlichen Genres gearbeitet: „Bibi Blocksberg“, „Die weiße Massai“, „Neue Vahr Süd“, „Tatort“, „Polizeiruf 110“. Zurzeit sitzt sie in der Postproduktion von „Lindenberg! Mach dein Ding!“. Fingscheidt wurde 1983 geboren und ist in diesem Jahr mit ihrem Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ in den Berlinale-Wettbewerb eingeladen wurden, wo das Drama gleich drei Preise gewann. Beide Hamburger Regisseurinnen kannten sich vor diesem Gespräch noch nicht.
Hamburger Abendblatt: Wie und wann haben Sie gemerkt, dass Sie sich mit dem Kino-Virus infiziert hattet?
Hermine Huntgeburth: Mir ist es mit 15 Jahren aufgefallen. Es gab in Paderborn, wo ich aufgewachsen bin, ein sehr gutes Kino, in dem ich oft war. Beim Theater habe ich dann als Garderobenmädchen gejobbt und begann mich immer mehr für Schauspielerei zu interessieren. Nach dem Abitur habe ich mich bei Filmhochschulen beworben, bin aber nirgendwo angenommen worden. Dann habe ich es doch noch in die Hochschule für bildende Künste in Hamburg geschafft. Da waren zu der Zeit auch Oliver Hirschbiegel, Rotraut Pape und Ulrich Stein.
Nora Fingscheidt: Mein erstes Kinoerlebnis war „Der Bär“. Ich hatte schon relativ früh die Absicht, die Filme zu ändern, die ich sah. Mit elf Jahren wollte ich schon eine neue Version der „Titanic“ drehen, in der Leonardo DiCaprio überlebt hätte. Vor die Kamera hat es mich nie gezogen, ich wollte immer Geschichten ummodeln. Zuerst war ich als Regie-Hospitantin beim Theater, das war aber gar nicht meine Welt. Später habe ich dann noch eine Regie-Hospitanz bei Philipp Stölzls „Goethe!“ gemacht.
Huntgeburth: In meinem Studium gab es keine Spielfilm-Abteilung, deshalb bin ich zwischendurch ans Theater gegangen, habe dort Assistenzen gemacht, um das Inszenieren von Schauspielern zu erlernen.
Sie haben beide vorübergehend im Ausland gelebt. Hat das Ihre Perspektive verändert?
Huntgeburth: Ich hatte ein Stipendium für Australien. Da wurde Drehbuchschreiben unterrichtet. Eigentlich habe ich da aber eher gelernt, wie man eine Krise überwindet, weil ich da so allein war und so weit weg.
Fingscheidt: Ich war als Teenager in Argentinien. Das hat mir einen anderen Blick auf unsere Gesellschaft vermittelt. Dort habe ich in einer argentinischen Familie gewohnt und bin zur Schule gegangen. Es war ein Jahr vor der Krise. Ich habe da ein ganz anderes Lebensgefühl kennengelernt. Wir haben uns da nie verabredet oder etwas genau geplant. Irgendjemand klingelte, und es ging los. Hier musste ich mich umstellen. Wann treffen wir uns, bei wem, wer bringt die Musik, wer die Getränke mit? Ich dachte: oha. Aber ich bin total gern wieder hier. Während des Studiums war ich auch noch in Los Angeles zum Austausch. Man lernt immer etwas und sei es, dass die da drüben auch nur mit Wasser kochen. In Argentinien habe ich 16 Jahre nach meinem ersten Aufenthalt meinen Abschlussfilm über die Mennoniten gedreht. Das Drehbuch zu „Systemsprenger“ wollte ich eigentlich als Abschlussfilm drehen. Es hat sechs Jahre von der Idee bis zur Premiere gedauert. Ich durfte es nicht als Abschlussfilm drehen, weil wir die Finanzierung nicht rechtzeitig anschieben konnten.
In „Systemsprenger“ geht es um ein vor Energie fast zerplatzendes neun Jahre altes Mädchen. Wie waren Sie in diesem Alter?
Fingscheidt: Wild.
Huntgeburth: Ruhig. Bist du ein Einzelkind?
Fingscheidt: Nein, ich habe zwei Geschwister, und du?
Huntgeburth: Neun.
Wie kommen Sie zu Geschichten, oder kommen die Geschichten zu Ihnen?
Huntgeburth: Sie kommen meistens zu mir, denn ich schreibe nicht.
Fingscheidt: Wie wählst du sie aus?
Huntgeburth: Beim Lesen des Drehbuchs muss etwas überspringen, was mich wirklich interessiert und aufregend ist. Das ist sehr selten.
Was hat Sie am Lindenberg-Film gereizt?
Huntgeburth: Die Riesen-Herausforderung. Ich habe noch nie einen Musikfilm gemacht, der zugleich ein Biopic ist. Und dann über Lindenberg! Seine Musik hat mich mein Leben lang begleitet. Er hat eine große Bedeutung für die Bundesrepublik, musikalisch wie politisch. Er hat die deutsche Sprache in der Rockmusik salonfähig gemacht. Der Film endet beim ersten großen Konzert in der Hamburger Musikhalle, erzählt seine Kindheit und die frühen Jahre als Musiker. Er kommt, wie ich, aus Nordrhein-Westfalen und sprach damals deshalb auch noch ganz anders als heute. Für mich war es sehr spannend, Hamburg in den 70er-Jahren zu erzählen mit dem Onkel Pö und der Reeperbahn, auf der es damals etwas anders zuging. Es geht auch um ein Lebensgefühl, das hat mich gereizt.
Fingscheidt: Bist du Fan seiner Musik?
Huntgeburth: Ich mochte sie schon immer und bin natürlich ein Fan.
Soll „Systemsprenger“ den Finger in eine Wunde legen? Kümmert man sich bei uns nicht genug um junge Leute, die nirgendwo so richtig hineinpassen?
Huntgeburth: Ich finde, das stimmt nicht. In Noras Film wird sich sehr viel gekümmert. Alle bemühen sich wahnsinnig, und doch scheitert dieses Mädchen.
Fingscheidt: Ich wollte nicht das System kritisieren. Eigentlich wollte ich einen Film über einen Menschen machen mit so einer unzähmbaren Energie, und wie sich das auf das Umfeld auswirkt. Ich bin dann durch Zufall über eine Systemsprengerin gestolpert.
Huntgeburth: Heißt das wirklich so?
Fingscheidt: Es ist ein inoffizieller Begriff, aber jeder, der mit der Jugendhilfe zu tun hat, kennt ihn. Zuerst hat mich das Wort stutzig gemacht, dann habe ich über das System nachgedacht. Ich war dann zur Recherche in einer Wohngruppe, einer Kinderjugendpsychiatrie und einer Notaufnahme. Da habe ich gemerkt: So einfach ist das alles nicht. Alle Leute, denen ich dort begegnet bin, sind aus einer guten Intention in diesen Beruf gestartet. Oft machen es ihnen dort die geringe Bezahlung und der zu niedrige Personalschlüssel schwer. Wenn eine Frau vom Jugendamt, wie in meinem Film, nicht für einen Fall, sondern für 60 oder noch mehr zuständig ist, und dann passiert etwas Schlimmes… Wenn Kinder totgeprügelt werden, heißt es oft: Das Jugendamt hat versagt. Aber was für Möglichkeiten haben die überhaupt?
Ihr Beruf erinnert in seiner Vielfalt ein bisschen an den Zehnkampf. Was machen Sie besonders gern, was nicht so?
Huntgeburth: Das Spannende an unserem Beruf ist, dass wir vom ersten bis zum letzten Moment den Schaffensprozess des Films begleiten und die künstlerische Gesamtverantwortung für unser Werk haben. Dabei arbeitet man mit starken kreativen Kräften zusammen wie zum Beispiel Buch, Kamera und Schauspielern. Was ich nicht so gern mache, ist das Synchronisieren.
Fingscheidt: Ich mag den Schnitt am liebsten. Das Drehen finde ich schwierig, es ist so stressig. Da habe ich immer nur Angst, dass ich etwas versemmele.
Huntgeburth: Meine Erfahrung sagt: Wenn man eine gute Grundlage hat, kann man es nicht wirklich versemmeln. Darauf kann man sich schon verlassen. Auch wenn es mal drei Tage lang nicht so gut läuft: Das wird schon.
Fingscheidt: Ich hoffe, du hast recht!
Sie arbeiten in einem Beruf, der noch immer von Männern dominiert ist. Hermine hat sich für die Aktion Pro Quote stark gemacht. Sind wir da auf einem guten Weg?
Huntgeburth: Ich glaube ja. Pro Quote hat sehr viel bewirkt, war und ist wichtig. Wo es noch nicht so richtig gut klappt, ist bei den Filmen mit hohen Budgets.
Fingscheidt: Ich gehöre einer Generation an, die dankbarerweise der Weg von Frauen wie dir schon freigekämpft worden ist. Ich kenne bisher aber auch nur die Arthouse-Schiene in einem sehr familiären Rahmen. Margarethe von Trotta hat in einem Interview gesagt, dass sie zuerst Schauspielerin geworden ist, weil sie sich gar nicht traute, Regisseurin zu werden. Solche Erfahrungen habe ich nicht gemacht.
Haben Sie aktuelle Lieblingsfilme?
Huntgeburth: „Systemsprenger“. Ist wirklich wahr, ein ganz starker Film. Und „I, Tonya“.
Fingscheidt: Ich habe neulich auf einem Filmfestival einen polnischen Dokumentarfilm „Communion“ gesehen, der hat mich umgehauen.
Braucht man als Regisseurin eine eigene Handschrift?
Huntgeburth: Ja, natürlich. Die künstlerische Handschrift eines Regisseurs macht einen Film einzigartig, nicht austauschbar.
Fingscheidt: Ich probiere immer noch aus und versuche, für jeden Film das in sich Stimmige zu finden. In „Ohne diese Welt“ geht es um eine fundamentalistisch-christliche Sekte, die wie im 17. Jahrhundert lebt: Ohne Strom und Internet, ohne fließend Wasser. Der ist extrem langsam, fast schon statisch, aber das hat natürlich etwas mit dem Inhalt zu tun. „Systemsprenger“ musste dagegen natürlich ein wilder Film sein, weil die Energie meiner Protagonistin alles durchfasert. Wo da das Gemeinsame ist, könntest du mir wahrscheinlich besser sagen.
Huntgeburth: Das jeder Film anders ist, versteht sich von selbst. Es ist ein Prozess. Man hat eigene Vorstellungen, und dann kommen noch die Ideen der anderen Filmschaffenden dazu. Das gibt der Sache einen zusätzlichen Reiz. Ein Film ist manchmal wie ein Lebewesen, irgendetwas Überraschendes passiert immer.
Fingscheidt: Genau. In unserer Schlussszene hat es zufällig und genau 25 Minuten lang geschneit. Wir haben das eingefangen, es sieht aus wie gewollt und gibt dem Schluss nun eine ganz eigene Richtung. Es gibt Filmemacher wie Alfred Hitchcock oder Michael Haneke die immer alles ganz genau vorher planen. Ich finde das bewundernswert, aber es ist mir völlig fremd, lieber mache ich Skizzen im Kopf und freue mich, wenn sie durch Zufälle beim Drehen plötzlich viel besser werden.
Sie sind beide Mütter. Wie schwer ist es, Kino und Kinder unter einen Hut zu bekommen?
Huntgeburth: Ein Kind bereichert natürlich das Leben. Es ist aber auch gut für den Beruf, denn wenn man nach Hause kommt, muss man total abschalten, weil man sich dann mit diesem Lebewesen beschäftigen will. Für mich war das eine positive Bestärkung, aber mein Mann Volker Einrauch hat mir auch viel abgenommen, er ist Autor und hat dafür gesorgt, dass ich ohne schlechtes Gewissen gehen konnte.
Fingscheidt: Ich empfinde das als schwierig und habe oft entweder der Arbeit oder meinem Sohn gegenüber ein schlechtes Gewissen. Aber ich habe ihn auch mitten im Filmstudium bekommen. Das war ein echter Balanceakt. Ich habe meinen Sohn oft mitgenommen, aber beim Dreh habe ich den Kopf dann nicht mehr frei. Mal sehen, was er zu alldem sagt, wenn er erwachsen ist.
Wie schwer ist es, sich mit diesem Beruf den Lebensunterhalt zu verdienen?
Huntgeburth: Das ist sehr schwer. Regisseure werden im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen im Film am schlechtesten bezahlt. Die festgesetzten Fernsehgagen im Vergleich mit der Arbeitszeit sind nicht in Ordnung. Davon kann man kaum leben, geschweige denn eine Familie ernähren. Wenn man seinen Beruf ernst nimmt, ist man mit einem Fernsehfilm mindesten ein halbes Jahr Fulltime beschäftigt. Das heißt zwölf Stunden am Tag, plus die meisten Wochenenden.
Fingscheidt: Ich komme über die Runden, lebe aber auch nicht auf großem Fuß. Es gibt Phasen, da kommt nix rein und andere, da muss man sich disziplinieren nicht alles auszugeben.
Haben Sie eine Idee, wie man ein junges Publikum dazu bewegen kann, ins Kino zu gehen?
Fingscheidt: Das ist schwer. Oft sind die Kinos leer, wenn ich hingehe. Zu Hause zu gucken ist natürlich bequem, trotzdem ist es im Kino eine ganz andere Erfahrung. Man muss einfach darauf vertrauen, dass sich das Kino als sozialer Ort wieder durchsetzen wird, zu dem man gemeinsam geht. Das Kino wurde ja schön öfter totgesagt.
Huntgeburth: Man muss dabeibleiben. Das gemeinsame Erleben ist etwas Besonderes, denn es geht ja nicht nur um das eigene Gefühl, sondern auch um das der anderen.
Fingscheidt: Ich würde einen Rappel bekommen, wenn ich Filme auf dem Handy sehen müsste. Aber das ist eben eine andere Sozialisierung.
Huntgeburth: Früher war das Kino auch ein Wahrnehmungsort in kleineren Städten. Vielleicht müssen die Schulen da helfen. Theater, Oper und gutes Essen muss man ja auch lernen, man muss da hingeführt werden. In Frankreich wird das zum Beispiel gemacht, da besitzt das Kino aber auch eine andere Anerkennung als Kunstform. Im Film werden schließlich gesellschaftliche Zustände und Widersprüche dargestellt. Das ist besonders wichtig, weil der Film als Medium noch unabhängig ist und uns die Gesellschaft spiegelt. Wie jetzt Noras Film. Er ist sehr gut aufgebaut, er hat viele überraschende Wendungen, das ist sowohl klug als auch unterhaltsam. Und das bei so einem schweren Stoff. Man wird bis zum Schluss mitgenommen und hat Angst um dieses Kind. So eine Anteilnahme kann man vielleicht nur im Kino erzielen.
Sie gehören zwei verschiedenen Generationen von Filmemacherinnen an. Unterscheidet Sie etwas, oder überwiegt das Verbindende?
Fingscheidt: Wenn ich Hermine über das Filmemachen reden höre, glaube ich schon, dass uns viel verbindet. Aber du musstest dir mit Sicherheit härter deinen Weg erkämpfen.
Huntgeburth: Ich weiß nicht, ich habe auch Glück gehabt und bin von den richtigen Menschen begleitet worden. Ich bin in meinem Leben nicht strategisch vorgegangen, sondern habe immer das gemacht, was mich wirklich interessierte. Vielleicht ist das das Geheimnis, denn man braucht sehr viel Kraft, um einen Film durchzuziehen, auch wenn alle anderen müde sind. Ein Film ist eine sehr lange Strecke. Und man darf nie denken, man sei schon irgendwo angekommen, sondern muss immer bereit sein, sich auch in Zweifel zu ziehen.
Hamburg-Premiere von „Systemsprenger“ ist am 9. September im Zeise. Am 19.9. kommt der Film regulär in die Kinos.
„Lindenberg! Mach dein Ding!“ soll 2020 seine Premiere erleben.