Hamburg. Zwei Menschen, ein Beruf: Der älteste Thalia-Schauspieler Peter Maertens trifft auf Schauspielhaus-Neuzugang Genet Zegay.
Rund 60 Jahre liegen zwischen ihnen. Peter Maertens, fast 88, Oberhaupt einer Hamburger Theaterdynastie. Genet Zegay, 27, strahlende Berufsanfängerin. Er ist seit Jahrzehnten am Thalia Theater, sie beginnt in der kommenden Saison am Jungen Schauspielhaus ihr erstes Engagement. Beide haben den gleichen Beruf in der gleichen Stadt: Theaterschauspieler.
Auf der Bühne gesehen haben sie einander noch nicht, begegnet sind sie sich nie. Trotzdem wird sofort geduzt, die Atmosphäre ist herzlich. Und nach einem langen Gespräch im Café des Artistes steht die erste Einladung: „Im September spiele ich wieder ,Mr. Green’ in der Gaußstraße, komm vorbei, bring jemanden mit“, sagt Peter Maertens. „Aber sag mir ja vorher Bescheid – du sollst bloß nicht deine knappe Gage dafür ausgeben!“
Hamburger Abendblatt: Wollten Sie beide schon immer zum Theater?
Maertens: Ich bin ja geprägt durch meine Eltern, die waren beide am Theater. Meinen Vater Willy Maertens habe ich vor 83 Jahren das erste Mal auf der Bühne gesehen, da war ich fünf Jahre alt und er war das „Tapfere Schneiderlein“. Ich habe trotzdem bis zum Abitur überlegt, ob ich nicht lieber Arzt werden soll. Damals gab es kaum Fernsehen, es war einfach noch nicht so schick, Schauspieler zu werden. Viele Eltern haben gesagt: Lern lieber einen richtigen Beruf. Das war bei meinen Eltern natürlich anders.
Zegay: Als ich als Kind irgendwann verstanden habe, dass das, was im Fernsehen passiert, nicht echt, sondern gespielt ist, wollte ich das auch machen. Ich komme allerdings so gar nicht aus einer Schauspielerfamilie. Meine Mutter ist Buchhändlerin, mein Vater ist technischer Angestellter und gelernter Elektriker. Natürlich wurde bei uns viel gelesen, aber einen direkten Zugang zum Theater gab es nicht. Mit 15 habe ich dann das erste Mal „Kabale und Liebe“ am Schauspiel Stuttgart gesehen. Der Schauspieler, der damals den Präsidenten gespielt hat, war jetzt, Jahre später, mein Professor und Mentor an der Schauspielschule in Salzburg. Und mit der Schauspielerin, die damals die Luise gespielt hat, stand ich neulich zusammen auf der Bühne. Das war ein schöner Moment. Vor allem, weil ich wirklich sehr lange vorsprechen war, bevor es überhaupt auf einer Schauspielschule geklappt hat.
Was heißt denn „sehr lange“?
Zegay: Vier Jahre. Das war wirklich hart. Aber es hat eben auch niemand gesagt: Lass es.
Maertens: Dieses Dranbleiben, das ist wichtig. Die Lehrer sehen ja 1000 Schüler oder mehr, die sich vorstellen, und sie wählen sicher sehr gute aus. Aber es bleiben immer auch sehr gute zurück. Mein Sohn Kai war zum Beispiel anfangs unsicher, ob er überhaupt Schauspieler werden will, der ist erst einmal in die Welt hinaus. Mein anderer Sohn, Michi, der wollte immer Schauspieler werden – und wurde in Hamburg und Berlin erst mal gar nicht genommen. Dann aber an der Münchner Falckenberg-Schule – und sein erstes Angebot war „Der gestiefelte Kater“! In Koblenz. Meine Frau hat direkt gesagt: „Ist doch schick, Michi! Da stehst du dann in langen Stiefeln!“ Hier am Thalia hatte er dann später einen Bombenerfolg mit „Clavigo“.
Mussten Sie selbst denn je vorsprechen?
Maertens: Doch, doch, und man ging auch erst einmal in die Provinz. Ich war in Oldenburg und in Hannover, in Freiburg und in Göttingen und erst dann irgendwann bei meinem Vater am Thalia.
Das klingt nach einem weitgehend geraden Weg. Gab es keine Beulen, kein Scheitern?
Maertens: Doch, Beulen gibt es natürlich immer. Ich habe ja sehr viel mit meinem Vater gearbeitet und mochte ihn und er hat mir viel geholfen – trotzdem hatte ich manchmal das Gefühl, dass andere mich vielleicht als Intendantensohn sahen. Gott sei Dank hat Ulrich Khuon seinen Sohn in Berlin jetzt auch fest engagiert! (lacht) Solche Konstellationen gibt es eben manchmal. Trotzdem habe ich mich freier gefühlt, wenn ich an anderen Theatern gespielt habe, auch wenn es am Thalia immer sehr familiär zuging, das war hier immer ein sehr schauspielerfreundliches Haus. Inzwischen bin ich hier nur noch Gast im Ensemble. Aber natürlich fühlt man sich nach 60 Jahren am Theater nicht als Gast. Das erste Vierteljahr musste ich ein bisschen schlucken, jetzt finde ich es ganz gut.
Zegay: Mein Vorsprechen am Jungen Schauspielhaus war so schön, dass ich ganz schnell zugesagt habe, noch bevor die Vorsprechtour vor den Intendanten überhaupt beendet war. Ich hatte keine Lust mehr auf die ganze Vorsprecherei, Hamburg war ein Glücksgriff, ich war mir einfach sicher.
Maertens: Hamburg hat schon eine tolle Theaterszene. Natürlich nicht wie Wien – nach Wien fährt man, um in die Oper oder ins Theater zu gehen. Nach Hamburg fährt man zum Hafengeburtstag.
War früher eigentlich alles besser oder ist es heute einfacher?
Maertens: Ich glaube, es war damals einfacher. Weil auch so viele neue Stücke kamen: von Tennessee Williams, Arthur Miller, war ja alles neu. Wer als Regisseur heute „Hamlet“ vom Blatt inszeniert, der kann keine Karriere machen. Damals war der Autor das Wichtigste. Heinz Hilpert, mein Intendant in Göttingen, sagte: Regie-Einfälle sind die Läuse der Gedanken. Das hat sich aber sehr geändert.
Zegay: Es gibt manchmal so einen Originalitätsdrang, das finde ich schade. Aber dass mehr Frauen Männerrollen spielen können und dürfen, das finde ich natürlich toll. Es ist ja trotzdem immer noch sehr ungerecht verteilt. Aber die Themen, um die es geht, betreffen ja alle. Die Ensembles werden diverser, dadurch sind auch die Möglichkeiten, wer was spielt, vielfältiger. Das ist eine totale Chance – und auch eine Notwendigkeit.
Maertens: Ganz früher gab es ja die Rollenfächer, der eine war der jugendliche Liebhaber, die andere die Salondame – und das war vertraglich auch festgelegt, man konnte darauf bestehen. Jetzt wird ja nach Individualität besetzt und das ist auch gut und richtig so. Wir haben am Thalia mit Barbara Nüsse und Karin Neuhäuser zwei tolle ältere Frauen, die beide auch Männerrollen super spielen können. Das gab es früher nicht.
Haben es Frauen zu Ihrer großen Zeit schwerer gehabt am Theater?
Maertens: Sie hatten weniger zu spielen. Ob die Männer mehr verdient haben, das weiß ich zum Beispiel gar nicht. Über Geld sprach man nicht.
Zegay: Wir tauschen uns alle darüber aus. Mit Kommilitonen, mit Freundinnen an anderen Theatern. Ungerechte Bezahlung findet sicher immer noch statt, aber es ist schon besser geworden in den letzten Jahren, auch weil wir mehr darüber reden. Weniger Rollen für Frauen gibt es allerdings immer noch. Was echt schade ist! Es gibt ja Autoren und Dramatikerinnen, die neue Stücke schreiben, die könnten das ändern.
Maertens: Mein Eindruck ist: Die jungen Schauspieler, die heute zu uns kommen, Männer wie Frauen, die sind viel professioneller und viel besser ausgebildet als wir es damals waren. Bei uns war es doch mehr Learning by Doing. Woher man kam, spielte keine Rolle, wenn man gut war.
Frau Zegay, Sie haben das Studium eben erst beendet. Wie selbstverständlich geht es Ihnen über die Lippen zu sagen: „Ich bin Schauspielerin“?
Zegay: Es fühlt sich noch komisch an. Vielleicht weil die Reaktionen so gemischt sind. Die Vorstellung über diesen Beruf ist so enorm unterschiedlich. Aber jeder hat eine. Neulich hatte ich eine Mitfahrgelegenheit und der hat echt gedacht, ich würde Pornos drehen. (lacht) Und als ich vor Kurzem im Krankenhaus war und meinen Beruf angeben musste, war die erste Reaktion: Oh, das ist ja ganz schön unsicher. Man gerät schnell in so einen Rechtfertigungsdrang. Ich glaube, das ist tatsächlich anders als in anderen Berufen.
Maertens: Als Schauspieler wird man gleich so einsortiert. Bei den „normalen“ Menschen ist das auch oft mit einem Star-Dasein verknüpft. Als ich im Krankenhaus war, haben die Schwestern nach mir gegoogelt. Vielleicht weil ich nicht so viel Wind gemacht habe. Dabei sind oft gerade schüchterne Menschen Schauspieler. Die dann diese Schüchternheit auf der Bühne loswerden. Klar gibt es Ausnahmen, aber das sind dann vielleicht mehr die Kantinen-Schauspieler.
Sind Sie schüchtern?
Maertens: Jetzt nicht mehr.
Zegay: Nein! (lacht)
Maertens: Wenn ein Mensch mit 87 Jahren sagt, ich möchte noch immer spielen, dann ist der aus normaler Sicht wahrscheinlich vor allem ein bisschen bekloppt. Wenn ich mir den neuen Spielplan anschaue und sehe da einen „Hamlet“, dann denke ich, ach, wie oft habe ich das schon gesehen und gespielt. Mit dem Maximilian Schell zum Beispiel, da war ich Güldenstern oder Rosenkranz. Dann hier am Thalia mit Peter Striebeck, da war ich Fortinbras, und später mit Peter Jordan … und auch noch mit Luk Perceval! Da gab es sogar zwei Hamlets in einer Inszenierung, dadurch kamen wir nach Moskau, das hat Spaß gemacht. Aber ich habe noch nicht den Geist von Hamlets Vater gespielt, vielleicht ist da ja noch was möglich.
Peter Maertens ist ein gutes Beispiel dafür, dass das Schauspieler-Dasein nicht unbedingt einen Beruf meint, sondern ein ganzes Leben. Macht man sich als junge Schauspielerin darüber Gedanken? Oder spielt die Trennung zwischen Beruf und Privatleben heute womöglich eine größere Rolle?
Zegay: Ja, die Diskussion gibt es und die Tendenz dahin auch. Es wird viel über Rechte gesprochen. Wir haben uns im jungen Ensemble-Netzwerk auch sehr dafür eingesetzt, dass man nicht so vereinzelt ist als Schauspieler, sondern dass es einen Wissensaustausch gibt. Da geht es dann auch um Verträge, um Ruhezeiten und das Recht auf ein Wochenende. Da ist viel in Bewegung.
Herrschen sonst nicht gerade am Anfang eines Berufslebens grenzenloser Optimismus und Idealismus?
Zegay: Ja, auch. Aber durch unendliches Proben bekommt man ja nicht unbedingt ein besseres Ergebnis.
Herr Maertens, war das bei Ihnen je ein Thema? Dass man womöglich nicht sein gesamtes Leben dem Theater unterordnen muss?
Maertens: Nein.
Zegay: Wenn ich gar nicht die Möglichkeit habe, ein Leben zu leben, woher soll ich denn dann schöpfen? Man braucht doch auch die Möglichkeit zu reisen, es muss doch auch was reinkommen, wenn was rauskommen soll.
Maertens: Das Leben ergibt sich ja sowieso.
War das Theater denn früher relevanter als heute?
Maertens: Na, ich hoffe doch, dass es immer noch so wichtig ist wie früher.
Zegay: Es gibt mehr Konkurrenz, Fernsehen, Internet … Mir ist es wichtig, Theater für die Menschen zu machen, die in dieser Stadt leben. Auch für die, die bislang nicht ins Theater kommen. Wie kriegen wir die? Warum kommen die nicht? Wir machen in der nächsten Spielzeit ein Stück über ein muslimisches Mädchen mit Kopftuch, weil es so viele Mädchen mit Kopftuch im Publikum gibt – wir wollen, dass die auf der Bühne auch mal repräsentiert sind. Das finde ich toll. Wir machen das Theater ja nicht nur für uns.
Es gibt eine Frage, die Schauspielern immer wieder gestellt wird: Wie kann man sich bloß diesen ganzen Text merken? Wenn man – wie Sie, Herr Maertens – in ein gewisses Alter kommt, wird die Frage interessanter.
Maertens: Ja, das ist richtig. Ich kenne sehr gute Schauspieler, die Regisseure geworden sind, weil sie sich keine Texte mehr merken konnten. Es ist so: Ich kann noch die Texte der allerersten Rolle, die ich auf der Schauspielschule gelernt habe. Aber neue Texte in meiner alten Birne? Das ist viel schwieriger. Wenn sie erst mal in der Birne sind, dann bleiben sie da auch.
Zegay: Ach, ich hatte auch schon Hänger, da war dann Sendepause. Ansonsten ist es einfach Übungssache.
Maertens: Das Textlernen hält uns Schauspieler vielleicht auch fit.
Wenn wir schon über das Gedächtnis sprechen: Können Sie sich erinnern, was Sie sich für Ihre erste Gage gekauft haben?
Maertens: Ich wohnte bei ehemaligen Chorsängerinnen in Oldenburg, da fror im Winter das Wasser. 300 Mark Gage habe ich damals bekommen. Was ich davon gekauft habe? Hm … Wahrscheinlich bin ich einmal schick essen gegangen.
Zegay: Von meiner ersten größeren Gage, als ich das erste Mal einen Film gedreht hatte, bin ich mit der Transsibirischen Eisenbahn von Peking nach Moskau gefahren. Das hat sich doppelt gut angefühlt, weil ich es ja selbst erarbeitet hatte.