Hamburg. Die Eröffnung des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel: zwischen Klimakollaps, Kunst und Kindergeburtstag.
Zu hohe Erwartungen, das sei nie gut, behauptet Festivaldirektor András Siebold, er wolle deshalb eigentlich nicht zu viel versprechen. Nur so viel: Das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel, das sei halt „das schönste Sommerfestival dieses Planeten“, und man habe in den nächsten Wochen nur ein Ziel: „Ihnen den aufregendsten Sommer Ihres Lebens zu bereiten!“
Das mit dem Tiefstapeln muss Siebold noch üben. Recht hat er vielleicht trotzdem – tatsächlich dürften Kunst, Klimakollaps, Klassentreffen und Kindergeburtstag kaum irgendwo so nah beieinander liegen wie hier beim Internationalen Sommerfestival.
"Vergessen Sie Salzburg, vergessen Sie Bayreuth"
„Vergessen Sie Salzburg, vergessen Sie Bayreuth“, empfiehlt auch Kampnagel-Chefin Amelie Deuflhard, und Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) verspricht: „Es kennen sich fast alle, und die, die sich nicht kennen, werden sich kennenlernen.“ Unbedingt. Denn wie jedes Jahr ist die Festivaleröffnung auch eine Art inoffizielles Saison-Vorglühen, fast alle Hamburger Kulturinstitutionen sind im gewohnt charmanten Avant-Garten vertreten. In den Bäumen hängen Luftballon-Trauben, nach und zwischen den Vorstellungen kann man flanieren, diskutieren, lümmeln, eine Runde auf dem „betrunkenen Karussell“ drehen oder sein Programm für die nächsten Tage organisieren, während auf dem Osterbekkanal Stand-up-Paddler und Kanus durch die Kulisse gleiten.
Neun Uraufführungen, davon drei in der größten Halle, stehen an, es wird – auch – um Feminismus, Digitalisierung und den Klimawandel gehen. „Wir machen hier aber keine Schwarzmalerei“, beteuert Deufhard, während der Kultursenator kurz darauf mit fröhlicher Zuversicht über die „posthumane Schöpfungsgeschichte“ plaudert. Also die Zeit nach dem Aussterben der Menschheit.
"Greta Thunberg Salat" am Gastrostand
Bis dahin gönnt man sich den „Greta Thunberg Salat“ am Gastrostand („Shalömchen und guten Appetit“) und stockt kurz, wie pietätlos es eigentlich ist, dort außerdem ein „Walter Lübcke Menü“ anzubieten. Wurst, Krautsalat, Humus. „Wer ist noch mal Walter Lübcke?“, fragt einer in der Schlange, seine Begleiterin erklärt es ihm. Mission Aufklärung und Erinnerung vermutlich vorerst erfüllt.
Buchstäblich Funken fliegen in der Kampnagel-Halle k6, in der das französische Kollektiv (La)Horde in Kollaboration mit georgischen Tänzern das rauschhafte Tanzspektakel „Marry Me In Bassiani“ zeigt, martialisch und wild. Der Zuschauer ist Zaungast einer offensichtlich arrangierten Hochzeit, nicht nur die Braut ist wenig einverstanden.
Die Festgesellschaft wirbelt wie eine Gruppe Derwische zu orientalischen Klängen und heftig wummernden Bässen; das Bassiani ist sowohl ein angesagter Untergrund-Club als auch ein Ort politischer Opposition in Georgiens Hauptstadt Tiflis. Der Abend erzählt von Unterdrückung und Aggression, von ungebremster Virilität und wehrhafter Weiblichkeit. Eine Statue wird geköpft, die einengend-betongraue Sowjetkulisse wieder zurückgeschoben, es gibt Messerkämpfe und kraftvolle Volkstänze zwischen Folklore und Techno, bei denen einem schon beim Hinsehen schwindelig wird.
Carsten "Erobique" Meyer und die DDR-Schlager
Auch die zweite Weltpremiere des Abends, „Wir treiben die Liebe auf die Weide“, erzählt von der Subversion durch Musik, wenn auch ganz anders: Hier geht es um DDR-Schlager. Die Musiker Carsten „Erobique“ Meyer und Paul Pötsch sowie die Regisseurin Lea Connert verwandeln ostdeutsches Liedgut der 1970er-Jahre vom Manfred Ludwig Septett bis Manfred Krug in eine liebenswerte Revue. Auch wenn es ein wenig merkwürdig anmutet, dass hier vor allem Hamburger Musiker sich die Musik und ihre Geschichte aneignen.
Sie werfen sich jedoch mit Lust in Verkleidungen – Meyer trägt an seinen Keyboards gelbe Latzhose mit nix drunter, Pola Lia Schulten einen eindrucksvollen roten Walle-Einteiler. In ihren Arrangements setzen die fünf Musikerinnen und Musiker vor allem auf den fröhlichen Funk- und Soul-Charakter, der Liedern wie „Mont Klamott“ von Silly auch innewohnt. Die kleinere Kampnagel-Halle ist komplett in einen 70er-Jahre-Live-Club verwandelt, inklusive Bartresen, der sich und die Besucher in der Funk-Hitze nach einem etwas spröden Beginn rasch auflädt.
Rampensau Bernd Begemann moderiert
Bernd Begemann gibt mit Teddybär-Charme den Rampensau-Moderator und glänzt als Interpret des Holger-Biege-Hits „Cola-Wodka“. Auch Pascal Finkenauer, DJ Patex, vor allem aber Sidney Frenz mit seinem rauen Soul-Organ überzeugen am Mikrofon, wobei manche Textzeile im Klangbad untergeht. Das Ziel des Abends indes bleibt unklar. In einem Moment scheinen die Akteure den ironischen Bruch zu suchen, dann wieder nehmen sie das utopische Potenzial ernst. Die Bedeutung der Schlagermusik, wie sie im SED-Jargon als pädagogische Erbauung festgeschrieben war, schimmert durch. Am Ende aber ist es einfach guter Pop.
Das lässt sich so vielleicht auf das gesamte Festival übertragen. „Avantgarde, die nicht ausschließt“, wollen die Macher. Hoch-, Sub-, Popkultur – alles kann, alles darf. Und der aufregendste Sommer des Jahres hat auf Kampnagel schließlich gerade erst begonnen.