Hamburg. Mit einem Festakt feierte das Thalia Theater 175 Jahre. In den Jubiläumsreden ging es auch um die Verantwortung der Kunst.

„Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen, und jedermann erwartet sich ein Fest. (...) Wie machen wir’s, dass alles frisch und neu und mit Bedeutung auch gefällig sei?“ Das sind so Fragen, die sich ein Theaterdirektor, ganz wie im „Vorspiel auf dem Theater“ aus dem „Faust“, auch 175 Jahre nach der Gründung seines Hauses noch genau so stellen kann – und stellen sollte, wenn er nicht in Bequemlichkeit verfallen will. Eine Jubiläumsmatinee zum 175. Geburtstag des Thalia Theaters mit eben diesen Zeilen zu beginnen, ist also nur recht und billig, zumal man so jenen das erste Wort überlässt, ohne die kein Theater existieren kann: dem Dramatiker und, natürlich, dem Schauspieler, in diesem Fall Goethe und Ensemblemitglied Sebastian Rudolph.

Musen altern souverän

Mit 175 Jahren ist das Thalia eine betagte Dame, aber Musen altern souverän. Sie erreichen lediglich veränderte Reifegrade und sorgen währenddessen verlässlich dafür – wie Intendant Joachim Lux in seiner Rede das Wesen der Kunst beschreibt –, dass „das Unsterbliche aus dem Sterblichen entstehen“ kann. Denn das Theater, so Lux, sei „grundsätzlich und immer ein Raum der Freiheit“, das „Erzählen selbst ein Akt der Freiheit“.

Thalia-Wimmelbild: Ensemble und Mitarbeiter von einst und heute, darunter die Schauspieler Peter Maertens, Barbara Nüsse, Katharina Matz, Hans Löw und der frühere Intendant Jürgen Flimm
Thalia-Wimmelbild: Ensemble und Mitarbeiter von einst und heute, darunter die Schauspieler Peter Maertens, Barbara Nüsse, Katharina Matz, Hans Löw und der frühere Intendant Jürgen Flimm © Kathrine Uldbaek Nielsen

Nur einen Tag, nachdem sich auch die beiden großen Hamburger Sprechbühnen an der symbolträchtigen Ausrufung der „Europäischen Republik“ beteiligten und zwei Tage, nachdem sich ein breites Bündnis bundesweiter Kulturinstitutionen, darunter ebenfalls das Thalia, solidarisch zur „Erklärung der Vielen“ zusammenfand, dreht sich auch diese Geburtstagsfeier nicht (jedenfalls nicht ausschließlich) nostalgisch um sich selbst. 175 Jahre Thalia Theater, das sind auch „175 Jahre Gegenwart“, so das Motto des Jubiläums. Es geht, was in seiner Notwendigkeit durchaus nachdenklich stimmen sollte, um das Theater als Raum der Freiheit. Dieser „republikanische Ort in einer republikanischen Stadtgesellschaft“ sei „nicht nur ein Tempel“, sondern ein Forum der Öffentlichkeit, betont Lux.

Ein tröstlicher Ort

Anlässlich des mehrfach historischen Datums (auch der eigentliche Thalia-Geburtstag ist ausgerechnet ein 9. November) erinnert er an den Untergang der Freiheit vor genau 80 Jahren, an die Ausrufung der Republik durch einen Sozialdemokraten vor 100 Jahren sowie an die Öffnung der innerdeutschen Mauer. Die politische Freiheit nämlich, die verteidige so ein Theater „gleich mit“. Sein Haus, so Lux, sei dem bürgerlichen Publikum und den „entlaufenen Bürgerkindern“, die da als Künstler auf der Bühne stünden und sich allabendlich zur „kalkulierten Grenzüberschreitung“ verabredeten, damit auch ein tröstlicher Ort.

175 Jahre Gegenwart. Daran knüpft auch der britische Dramatiker Simon Stephens in einer furiosen (und furios vorgetragenen) Rede an, der sich auf der weitgehend leeren Bühne vor allem zwei entscheidende Fragen stellt: Was ist hier schon alles passiert? Und was passiert als nächstes? Stephens erinnert daran, dass der Mensch sich auch deshalb von den anderen Lebewesen unterscheidet, weil er die überlebensnotwendige Gabe besitze, Geschichten zu erzählen und an Geschichten zu glauben. Nicht zuletzt sei es das Versagen der Brexit-Gegner gewesen, nicht auf die bessere Story zu vertrauen: die Geschichte Europas. „Wir haben es verpasst, die Menschen an etwas glauben zu lassen, das sie nicht sehen konnten.“

Die Rede von Simon Stephens

Stephens, der leidenschaftlich seine Liebe zu Hamburg betont („The city of Mendelssohn and Brahms and St. Pauli Football Club!“), gratuliert auch dem Publikum zu seinem Theater: Es gebe keinen besseren Ort, um die entscheidenden Geschichten zu erzählen als eben dieses Haus. Und er könne sich keine wichtigere Zeit denken, um „darüber nachzudenken, was hier passiert ist, in dieser Stadt, in diesem Land, auf diesem Kontinent in den vergangenen 175 Jahren – und zu fragen, was wohl als nächstes passieren wird“.

Brosda erinnert an die Freiheit der Kunst

Mit der Kunst komme nicht nur die Magie, sondern vor allem auch die Verantwortung, erklärt auch Kultursenator Carsten Brosda (SPD): „Mit ihr einher geht die Kraft, den Gesetzmäßigkeiten unserer Welt und ihres Alltags nachzuforschen und sie offenzulegen.“ Kunst könne über gesellschaftliche Verhältnisse aufklären – „wenn denn ihre Freiheit gewährleistet ist“.

Das allerdings ist kein Naturgesetz, wie man nicht zuletzt am erstarkten Widerstandsbewusstsein spüre: Brosda erinnert an die Freiheit der Kunst als „Gradmesser der Freiheit einer Gesellschaft“ und beschwört die „Bedrohung der Wahrheit“ in Zeiten, in denen „jeder ungefiltert und anonym im Netz alles behaupten kann, um Angst, Wut oder Hass zu schüren“. – „Wir stehen deshalb vor der Aufgabe, den bisweilen anstrengenden Weg zur Freiheit weiterzugehen“, so Brosda. „Dieser Weg führt durch gesellschaftliche Räume. Unsere Kultureinrichtungen und insbesondere unsere Theater sind solche Räume der Freiheit, des riskanten, des spekulativen Denkens.“ Zum Geburtstag bringt der Senator einen Wunsch an das Thalia mit: „Nehmen Sie keine Rücksicht, sondern schauen Sie voraus.“

Senatsempfang im Anschluss

Die Geschichte des Thalia Theaters indes schreibt sich bereits fort. Nachdem in einem ebenso anrührenden wie beeindruckenden Aufmarsch viele ehemalige und derzeitige Schauspieler und Mitarbeiter des Hauses gemeinsam Brechts „Ballade von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ singen, übergibt Christoph Bantzer in einem Senatsempfang im Anschluss den Albert-Bozenhard-Ring für den „würdigsten Thalia-Schauspieler“ an die erste Frau in der Reihe der Geehrten: Victoria Trauttmansdorff. „Ich bin gern würdig“, erklärt diese. „Die Würde eines Schauspielers ist ja antastbar.“