Hamburg. Am 20. Juni startet das zweite Festival der Starpianistin. Lampenfieber hat sie noch immer. Wir haben sie in Paris am Telefon erwischt.

Es ist nicht immer leicht, Martha Argerich zu sein. Als Pianistin seit Jahrzehnten weltweit verehrt, immer im Mittelpunkt und dabei doch eigentlich schon so lange auf der Suche nach einem Weg raus dem Scheinwerferlicht. „Ich kann mir ein Leben ohne Konzerte sehr gut vorstellen“, sagt sie mit einem leisen Lachen ins Telefon. „Aber ich komme einfach nicht dazu, weil immer wieder neue Projekte an mich herangetragen werden.“

Eines dieser Projekte ist das Martha Argerich Festival, das die Symphoniker Hamburg in diesem Jahr zum zweiten mal ausrichten. Zehn Konzerte binnen neun Tagen, und in allen ist die inzwischen 78-Jährige zu hören, über die Kritikerlegende Joachim Kaiser einst schrieb: „An Feuer, Schwung und unbändiger Kraft dürfte niemand Martha Argerich übertreffen.“

Indes: An Kraft mangelt es ihr gerade etwas. Bei Auftritten in Japan und Südkorea hat sie sich eine Bronchitis eingefangen, nun ruht sie in Paris aus, doch das Telefoninterview, bei dem ihre Tochter Annie Dutoit zugeschaltet ist, will sie führen. Schließlich geht es hier um ihr Festival, das nicht umsonst mit dem Slogan wirbt „Wohl dem, der solche Freunde hat!“. Und diese Freunde versammeln sich ab dem 20. Juni vor allem in der Laeiszhalle um Martha Argerich: Cellist Mischa Maisky, die Pianistinnen Khatia Buniatishvili und Maria João Pires, Dirigent Charles Dutoit (einer ihrer drei Ex-Ehemänner), Geiger Renau Capuçon und viele andere. Sie sind nicht nur hochkarätige musikalische Partner für eine enorm vielfältiges Festivalprogramm, in dem Bartok auf Mozart trifft, Bach auf Strawinsky oder Beethoven auf Prokowjev. Für Martha Argerich sind sie auch eine Art Sicherheitsnetz.

Eigentlich wollte sie längst weniger Konzerte spielen

Seit vielen Jahrzehnten leidet die Argentinierin unter extremem Lampenfieber, seit 1981 tritt sie deshalb nicht mehr solo auf. Allein auf der Bühne fühle sie sich wie „ein Insekt unter einem Brennglas“, hat sie einmal gesagt. Mit Partnern liegt der Fokus nicht allein auf ihr, das entlastet. „Am Tag eines Konzerts geht es mir nicht gut“, erklärt sie mit leicht heiserer Stimme. „Vielleicht wäre es anders, wenn ich jeden Tag auftreten und mich entsprechend daran gewöhnen würde. Wer weiß.“

Schon vor zehn Jahren hatte sie angekündigt, herunterzuschalten und deutlich weniger Konzerte zu geben. Doch dann kamen eben diese ganzen Projekte und überhaupt: „Ich spiele inzwischen immer häufiger... Offensichtlich bin ich ein lebender Widerspruch, das muss wohl an meinem Sternzeichen liegen. Ich bin ja Zwilling.“

Führt sie also ein Künstlerleben voll innerer Qual? Nein, sagt ihre Tochter Annie: „Wenn meine Mutter von der Bühne kommt, hat sie mehr Energie als vorher. Das ist ungewöhnlich, viele Künstler sind nach einem Konzert völlig erschöpft.“

Argerich kontert die Schnellspieler-Kritik

Ohnehin ist nicht zu übersehen, dass Martha Argerich das Zusammenspiel mit alten Freunden und neuen jungen Talenten, auf die sie aufmerksam geworden ist, mag, es vielleicht sogar genießt: die familiäre Atmosphäre, die Vertrautheit, das Miteinander auf der Bühne. Bei ihrem Festival in Lugano hat sie das 15 Jahre lang erlebt, bis 2016 der Sponsor ins Trudeln geriet.

Nun also wird Hamburg erneut zur Festivalstadt, und zu den Gästen gehört mit Khatia Buniatishvili unter anderem eine Pianistin, die vom Temperament her so ganz anders ist als ihre Mentorin. Die sich mit Lust selbst inszeniert, für Luxusmarken wirbt, Social-Media-Plattformen nutzt. Und die sich gelegentlich einen Vorwurf gefallen lassen muss, den Martha Argerich nur all zu gut kennt: „Auch mir wurde früher vorgeworfen, eine Schnellspielerin zu sein. Zu Unrecht!“ Überhaupt sei der bisweilen erhobene Kritikervorwurf, heutzutage werde die Athletik zu sehr in den Vordergrund gerückt, nicht zutreffend. „Ich habe mir ganz alte Aufnahmen, etwa von Rachmaninov angehört und der spielte schon vor fast 100 Jahren enorm schnell.“

Martha Argerich lässt lieber Musik sprechen

Um stupendes Tempo als Wert an sich ist es bei Martha Argerich natürlich nie gegangen. Sie spiele bisweilen „fesselnder, entfesselter, unmanierierter“ als Vladimir Horowitz und könne sich in kurzer Zeit die unterschiedlichsten Werke „ganz zu eigen machen“, schrieb Joachim Kaiser schon in seinem Standardwerk „Die großen Pianisten unserer Zeit“. Ausführlich analysiert er darin ihre Fähigkeiten, für die es höchste internationale Auszeichnungen gab, seit Martha Argerich 16 Jahre alt war.

Doch auch mehr als als sechs Jahrzehnte später mag die weltweit so Gepriesene über die Magie hinter den Tönen nicht reden. Ihre Sprache sei die Musik, hat sie einmal erklärt, mit ihr lasse sich alles sagen, was Worte nicht auszudrücken vermögen. Und so tritt sie denn von Donnerstag an auf ihre eigene Art in Zwiesprache mit Kollegen, denen sie vermutlich mehr vertraut als sich selbst. Und die es ihr Abend für Abend ein bisschen leichter machen, Martha Argerich zu sein.