Hamburg. Im Opernloft hatte eine in die Gegenwart übertragene 90-Minuten-Version von Jules Massenets „Werther“ Premiere.

Eine pfiffige Idee. Um Massenets romantische Oper „Werther“ leichter zugänglich zu machen, hat Regisseurin Anke Rauthmann den Blickwinkel verändert: In ihrer neuen, auf vier Personen und rund 90 Minuten Spieldauer verdichteten Produktion des Stücks im Opernloft erleben wir das Melodram aus der Perspektive einer Sophie der Jetztzeit. Die junge Frau studiert heute Psychologie und kehrt ins Elternhaus zurück, um die Motive ihrer Schwester Charlotte und den Selbstmord des am Ende verschmähten Werther besser verstehen zu können.

Sophie staubt den alten Fernseher im Wohnzimmer ab und kuschelt sich in die Strickjacke auf der roten Récamiere im Wohnzimmer (Ausstattung: Margarethe Mast); sie setzt sich zwischendrin selbst als Zuschauerin ins Publikum und kommentiert das Geschehen gelegentlich. Episches Theater light.

Auf der Bühne: vier exzellente Sängerinnen und Sänger

Dadurch, dass Sophie stellvertretend für uns eine historische Distanz einnimmt, wird das Stück wieder nahbar: die schwärmerischen Melodien Massenets und ihr romantisches Pathos, den Dauerliebesschmerz von Werther und die Zerrissenheit von Charlotte, in deren Brust, ach, zwei Herzen schlagen.

In der Opernloftversion ist Charlottes inneres Drama auf den Konflikt zwischen zwei gegensätzlichen Männer- und Lebensmodellen umgemünzt: heiße Liebe und Leidenschaft mit dem sympathischen, aber labilen Träumer Werther versus Sicherheit, dickes Auto und schlecht sitzende Anzüge beim zuverlässigen, aber auch grobklotzigen Langweiler Albert.

Konsequenter Umgang mit schwierigem Thema fehlt

Da Massenets Original das etwas anders erzählt, legt Anke Rauthmann ihrer Sophie hier eine von mehreren kurzen Sprechpassagen in den Mund – und in­stalliert damit einen merkwürdigen Bruch. In einer Oper, deren Figuren ihre Gefühle ansonsten mit epischer Breite aussingen, wirkt es putzig, wenn Sophie dann an der alles entscheidenden Stelle plötzlich nur ein paar knappe Sätze verliert, um ihre Schwester vor der schicksalhaften Männerwahl umzustimmen.

Auch als Sophie schlaumeierisch sämtliche psychischen Befunde runterrattert, die sie bei Werther zu diagnostizieren glaubt („narzisstisch, neurotisch, bipolar, suizidal“), ist nicht ganz klar, ob die Komik gewollt ist. Denn einerseits ironisiert die Regisseurin die Ausdrucksschwere des Stücks auch an anderen Stellen – etwa wenn die Mundharmonika-Melodie aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ als eine Art Leitmotiv erklingt – andererseits schlägt sie kurz vor Schluss einen mahnenden Ton an: als ihre Psychologin Sophie ernsthaft, aber auch wieder nur äußerst kurz über reale Suizidraten in Deutschland informiert.

Produktion macht Schwachstellen wett

Insgesamt findet die Inszenierung keinen konsequenten Umgang mit dem schwierigen Thema, das nach den Vorstellungen mit Expertinnen diskutiert wird. Außerdem gelingt es der Regisseurin selten, die Momente von körperlicher Anziehungskraft und vereinzelt auch gewaltsamer Annäherung auch glaubhaft zu choreografieren. Aber solche Schwachstellen macht die Produktion mit ihren guten Einfällen, mit einer abwechslungsreichen Bildsprache und packenden Emotionen wett, die bei den vier exzellenten Sängerinnen und Sängern hautnah zu erleben sind. Caitlin Redding porträtiert die Charlotte mit dramatischer Intensität, Ines Vinkelau gibt eine geschmeidige Sophie, Ljuban Zivanovic beeindruckt als Werther mit tenoraler Strahlkraft, der Bass Stepan Karelin als Albert mit warmem Timbre. Ihre glühenden, schmachtenden und verzweifelten Arien und Duette begleitet die musikalische Chefin Makiko Eguchi vom Flügel auf der linken Seite der Bühne, gemeinsam mit dem Geiger Andre Böttcher und dem Klarinettisten und Saxofonisten Robert Löcken, der – wie schon vergangenes Jahr bei der „Carmen“ – einige besonders schöne Farben beisteuert.