Hamburg. Igor Strawinsky nimmt in “The Rake’s Progress“ die europäische Theatergeschichte aufs Korn. Jubel für Hannigan – aus zweierlei Gründen.

Was für eine Männerfreundschaft. Der eine erfüllt dem anderen die verrücktesten Wünsche, manche pflanzt er ihm auch erst ein. Er folgt ihm, begleitet ihn mal aus der Ferne und ist wie von Zauberhand zur Stelle, wenn es eng wird. Natürlich hat die Sache ihren Preis. Wer jetzt an Faust und Mephisto denkt, hat irgendwie recht, liegt aber doch daneben. Igor Strawinsky nimmt in „The Rake’s Progress“, seiner einzigen abendfüllenden Oper, die europäische Theatergeschichte aufs Korn, aber aus einer Art Halbdistanz: Er zitiert nicht direkt, aber er umreißt und deutet an.

Deshalb haben die Librettisten Wystan Hugh Auden und Chester Kallman die Mephisto-Figur in „The Rake’s Progress“ so neuzeitlich wie beziehungsreich Nick Shadow genannt. Und deshalb waren die Zuhörer beim Abschlusskonzert des Internationalen Musikfests im Großen Saal der Elbphilharmonie durchaus gefordert. Wer mehr mitdachte, der hatte auch mehr von Strawinskys vielen verdeckten literarischen und musikalischen Anspielungen.

Elbphilharmonie war letzte Station für Hannigan

Das Stück ist im Kern eine Parodie, das Abziehbild einer Opernhandlung mit ihren logischen Brüchen und ihren oft stereotypen Figuren, mit Flüchen und wundersamen Erscheinungen. So etwas lebt von der Situationskomik, aber ein größerer Spannungsbogen ist nicht leicht zu halten, wenn der Urheber des Stücks seine Figuren unausgesetzt ironisiert. Auch nicht für die Kanadierin Barbara Hannigan, die in der Elbphilharmonie die Leitung innehatte. Hannigan wird weltweit gleichermaßen als Hochseil-Sopranistin wie als Dirigentin gefeiert; in Hamburg ist sie unsterblich wegen ihrer furiosen „Lulu“ an der Staatsoper.

Mit der Strawinsky-Oper war sie über Monate auf Tournee. Hamburg war die letzte Station für Hannigan und ihre fulminanten Ensembles: Es spielte das Orchester, das sich kurz und bündig Ludwig nennt, es sang die Cappella Amsterdam, und die Solopartien übernahm eine Reihe allerfeinster junger Sänger, sämtlich Teilnehmer von Hannigans Förderprojekt „Equilibrium“. In Workshops und Probenphasen hatten sie mit ihr weit intensiver und ganzheitlicher an der Oper gearbeitet, als das im normalen Theaterbetrieb möglich ist.

Ihre schmale Gestalte krümmte sich zu einem Flitzebogen

Hannigan war also das Epizentrum der Aufführung – fast mehr, als der Sache dienlich war. Ihre schmale Gestalt krümmte sich förmlich zu einem Flitzebogen vor Spannung. In ihrem Dirigat waren die Taktzeiten zwar kaum zu erkennen, dennoch erreichte sie eine beeindruckende rhythmische Präzision. Etwas mehr sinnlicher Fluss, etwas freierer Atem hätten der Musik aber nicht geschadet. Erst kurz vor dem ersten, traurigen Ende (dem übergangslos ein operntypisch aufgeräumtes zweites folgte, Mozarts „Don Giovanni“ ließ grüßen) ließ sie die Leine mal etwas länger.

Die jungen Stimmen waren ein Hochgenuss, angefangen bei Sofie Asplund, die als Anne Trulove ihren frischen, warmen, mühelos strömenden Sopran in aller Emotionalität blühen lassen konnte; ihre Figur war die einzige, der Strawinsky eine über das Typenhafte hinausgehende Persönlichkeit zugestand. Alle kosteten sie das komödiantische Potential ihrer Rollen aus. Die Mezzosopranistin Marta Swiderska gab die mondäne Zirkusartistin Baba the Turk mit vollem Körpereinsatz, der Tenor James Way war ein abgebrühter Auktionator.

Elektrisch aufgeladene Musik in der Elbphilharmonie

Und das Orchester, klein und hörbar fein besetzt, lud die Musik geradezu elektrisch auf. Hier waberte ein Hauch „Rheingold“ durch die hervorragend schussfeste Blech-Fraktion, da grooovte der Broadway, dort klagten die Oboen, als beweinten sie Jesu Tod in einer Bach-Passion. Und Mozart mit seinen frechen Rezitativen und seinen stilistisch so genau auf die Psychologie der Figuren zugeschnittenen Arien war sowieso stets gegenwärtig. Natürlich, wie alles andere, stark verfremdet.

Strawinsky selbst und das technikverliebte 20. Jahrhundert zeigten sich am ehesten in der Harmonik und mehr noch in der durchlaufenden Motorik, der die Musiker einen unglaublichen Drive verliehen. Großer Jubel für diese Ensembleleistung, noch mehr Jubel für die Dirigentin, die zum Abschluss den Ehrenpreis der deutschen Schallplattenkritik 2018 verliehen bekam.