Hamburg . Der ehemalige NDR-Chefdirigent lotst zwei hoch angesehene Klassik-Ensembles in die Stadt. Wann Hengelbrock was wo spielen lässt.
Bevor es richtig losging mit der Pressekonferenz zu seinem neuen Hamburger Karriere-Abschnitt, da sagte Thomas Hengelbrock in einem Eigenwerbungs-Video seines Orchesters den schönen Satz: „Wir kommen zusammen, um ganz radikal Musik zu machen.“ Gemeint war damit nicht mehr das NDR Elbphilharmonie Orchester; die unharmonische Trennung ist fast verjährt, die gegenseitig beigebrachten Wunden sind womöglich gut vernarbt. „Das kommt mal vor, dass es ein bisschen im Gebälk knirscht“, kommentierte der Dirigent diese erledigte Geschichte jovial. Nein, Hengelbrock argumentierte viel lieber nach vorn, demonstrativ sonnig gestimmt. Radikal sollen bald andere mit ihm auftreten.
Mit Beginn der nächsten Spielzeit hat Hengelbrock ein frisch nachgewachsenes Stand- und Spielbein in Hamburg. Denn er startet in Eigenregie in eine kleine, feine Residenz-Reihe mit dem Balthasar-Neumann-Ensemble und -Chor, die das hiesige Musikleben produktiv aufmischen könnte, auch wenn sie quantitativ noch ausbaufähig ist.
Hengelbrock plant sechs Konzerte in Hamburg
Zur Erinnerung: Auch das Ensemble Resonanz, inzwischen feste Größe, hat einmal klitzeklein angefangen, als Kellerkinder-Trüppchen im Souterrain der Laeiszhalle. Sechs Hamburger Konzerte stehen nun in der nächsten Saison in Hengelbrocks Kalender: drei Programme in der Laeiszhalle, eines in der Elbphilharmonie, ein kubanischer Abend im St. Pauli Theater sowie ein Kammerkonzert im Blankeneser Poolhaus, alle maßgeschneidert, dazu weitere Projekte.
Den Auftakt macht ein Laeiszhallen-Konzert im September, bei dem Händels „Dixit Dominus“ auf Bach-Kantaten trifft. Am Nikolaustag folgt die Aufführung von Saint-Saëns’ Weihnachtsoratorium, kombiniert mit ähnlich unbekannteren Raritäten. Zum Jubiläumsjahr steht im Februar 2020 die Rekonstruktion eines Beethoven-Akademiekonzert-Programms mit drastischer Überlänge an: zwei Sinfonien, ein Klavierkonzert und die Chorfantasie, unter anderem, an einem wirklich sehr langen Abend. Abschluss wird im nächsten April in der Elbphilharmonie die Aufführung von Liszts Kreuzwegvertonung „Via crucis“ mit passendem Rahmen-Repertoire sein.
Je 150.000 Euro von Kulturmäzenen und Kulturbehörde
Für die ersten drei Jahre geben die in Hamburg enorm flächendeckend aktiven Kulturmäzene Claus-G. und Annegret Budelmann 150.000 Euro pro Jahr. Die Kulturbehörde, durch einen Brief Budelmanns an Kultursenator Carsten Brosda freundlich-bestimmt zum Mittun eingeladen, legt die jeweils gleiche Summe aus Einnahmen der Kultur- und Tourismustaxe dazu. Der Elbphilharmonie-Effekt rechnet sich also auch so für die aufblühende Musikstadt.
Ein Büro für seine vielfältigen Aktivitäten hatte Hengelbrock bereits in Hamburg. Diese Schaltzentrale, mitten im Schanzenviertel gelegen, wird nun zum Organisationszentrum für die örtlichen Aktivitäten seiner Klangkörper ausgebaut. Die Originalklang-Spezialisten, weltweit bestens im Geschäft, hatten ihre Anlaufadresse bislang vor allem in Freiburg, beide Ensembles hatte Hengelbrock in den 1990er-Jahren dort gegründet. Diese Präsenz in Freiburg solle vorerst auch noch so bleiben, hieß es.
Carsten Brosda hofft auf einen "selbstverstärkenden Prozess
Da die Neumänner und -innen aus allen Himmelsrichtungen zu ihren Projekten kommen und wieder gehen, sei das kein Problem. Doch das Signal in Hamburg ist eindeutig: Hengelbrock will hier, ausgerechnet hier und von nun an, als local player und befreit von öffentlich-rechtlichen Sachzwängen, wieder etwas bewegen und beweisen. Den beiden Herren, die mit ihm die ehrgeizigen Pläne vorstellten, kann das nur recht sein, denn das Timing dieser Rolle vorwärts passt bestens in deren Strategien.
Für den Kultursenator zeigt dieser Zuwachs, dass die Behauptung der Musikstadt Hamburg einen Prozess auslöst, der „selbstverstärkend“ ist. Die Spezialisten die historische Aufführungspraxis als Klangfarbe in die Stadt, das sei „wunderbare Ergänzung und Herausforderung für alle anderen“.
Lob von Elbphilharmonie-Intendant Lieben-Seutter
Christoph Lieben-Seutter, Generalintendant der beiden hiesigen Konzerthäuser, kann mit Hengelbrocks Rückkehr eine chronische Lücke im Gesamtprogramm-Profil angehen. Doch es soll eindeutig nicht um Machtspiele gehen, auch nicht um Verdrängung. „In jeder echten Musikstadt, und hier machte der gebürtige Wiener keine rhetorische Kunstpause mehr, „gibt es ein, zwei Spezialisten-Ensembles wie diese“. Danach betonte er ebenso eindeutig: „Genau das hat im Portfolio der Musikstadt Hamburg noch gefehlt.“
Das Etikett „Residenz“ heiße allerdings nicht automatisch, dass damit die Ernennung zu einem weiteren „Residenzorchester“ verbunden sein muss. Die Denkrichtung zielt auf Erweiterung. Schon vor etlichen Jahren hatte der damalige Laeiszhallen-Chef Benedikt Stampa prophezeit: „Neue Räume schaffen neue Inhalte.“
Auch die Willkommen-Zurück-Botschaft des NDR ist in Dur komponiert, kreative Konkurrenz ist schließlich für alle gut: „Es ist ein Gewinn für das Hamburger Musikleben, ein so hochkarätiges Ensemble für die Aufführungspraxis Alter Musik in der Stadt zu haben“, kommentierte NDR-Klangkörpermanager Achim Dobschall. „Thomas Hengelbrock ist ein herausragender Interpret dieses Repertoires und wird mit seinen Projekten insbesondere das Profil der Laeiszhalle beleben.“