Hamburg. Früherer Rostocker Intendant wird künstlerischer Leiter – und soll auch als Schauspieler in Erscheinung treten.
Sewan Latchinian übernimmt ab 1. August die künstlerische Leitung der Hamburger Kammerspiele. Was klingt wie eine alltägliche Personalie, besitzt bei genauer Betrachtung doppelte Brisanz. Erstens, weil es hier um eine Position geht, die es so bisher nicht gab: Die Leitung des Hauses lag während der vergangenen 16 Jahre bei Axel Schneider, Geschäftsführer des Privattheater-Konglomerats Stäitsch Theaterbetriebs GmbH, das Altonaer Theater, Harburger Theater, Bergedorfer Haus im Park und Kammerspiele umfasst.
Schneider, der neben dieser Intendanz auch noch unter anderem die Burgfestspiele Jagsthausen und die Festspiele Heppenheim kuratiert, am Berliner Renaissance-Theater arbeitet, mit den Ruhrfestspielen kooperiert und nicht zuletzt die Privattheatertage veranstaltet, hat laut eigener, scherzhafter Aussage „einen 28-Stunden-Tag“, eine Arbeitsbelastung, die er verständlicherweise reduzieren möchte. Auftritt Latchinian.
Warum die Personalie so heikel ist
Der gebürtige Leipziger ist, und das ist der zweite Punkt, nicht irgendwer. Der Endfünfziger mit der markanten Glatze ist Dramatiker, Regisseur, Intendant und nicht zuletzt wandlungsfähiger Schauspieler, der an der renommierten Berliner Ernst Busch Schule ausgebildet wurde und unter anderem im zu DDR-Zeiten legendären Staatstheater Schwerin und am Deutschen Theater Berlin engagiert war.
Dort entwickelte er das Konzept einer kleinen Experimentierbühne mit, aus der Ende der Neunziger die von Thomas Ostermeier zu spektakulären Erfolgen geführte „Baracke“ hervorging. Allerdings ohne Latchinian an Bord – der hatte Berlin 1997 verlassen, um Oberspielleiter in Neuss zu werden und im Anschluss 2004 als Intendant die Neue Bühne Senftenberg zu übernehmen.
Senftenberg ist der Ort, auf dem Latchinians Ruhm gründet: Die Neue Bühne ist ein reines Sprechtheater in der Niederlausitz, hinterste Provinz sozusagen. Die unter seiner Intendanz zum Wallfahrtsort für Theaterbegeisterte wurde, 2005 wählte die Kritikerriege des Fachmagazins Theater heute die Neue Bühne neben dem Deutschen Theater, dem Hamburger Schauspielhaus und den Münchner Kammerspielen zum Theater des Jahres. Und Latchinian war der Mann der Stunde in der Theaterwelt.
Latchinian in Rostock fristlos entlassen
Verständlich, dass größere Häuser sich um ihn rissen. 2014 ging er als Intendant ans Volkstheater Rostock, ein Vier-Sparten-Haus, wo er ein ambitioniertes, von der überregionalen Kritik gefeiertes Eröffnungsprogramm hinlegte. Aber einerseits mit der Missachtung der Kulturpolitik und Sparauflagen zu kämpfen hatte, andererseits ständig mit seinem kaufmännischen Geschäftsführer Stefan Rosinski aneinander geriet.
Nach nur einem Jahr wurde sein Vertrag fristlos gekündigt, was einen langwierigen Rechtsstreit zwischen ihm und der Stadt Rostock zur Folge hatte; mittlerweile freilich ist Latchinian vollständig rehabilitiert (und der Ruf Rostocks als Theaterstadt mehr oder weniger ruiniert).
Tatsächlich gilt er als streitbarer Künstler, der sich ungern in sein Konzept reinreden lässt; in Rostock war sein Verhältnis zu Rosinski (der den Ruf hat, sich gerne einzumischen) von vornherein angespannt. Und jetzt an den Kammerspielen? Latchinian wird die künstlerische Verantwortung tragen, er residiert im Intendantenbüro, im Grunde ist er also Intendant? Nein, das bleibt weiterhin Axel Schneider. Bei einem künstlerischen Leiter, der nicht ohne Grund viel Selbstbewusstsein mitbringt, kann so eine Aufgabenverteilung zu Problemen führen.
Latchinians pikante Ankündigung
Allerdings: Schneider und Latchinian zeigen sich vor der Presse in trauter Eintracht. Anders als in Rostock soll mit der neuen Leitung auch nicht alles anders werden: Der Übergang wird behutsam organisiert, zumal Latchinian zunächst als Schauspieler (ab 17. März in „Die Nervensäge“) und Regisseur (ab 28. 4. für „Nein zum Geld“) am Haus präsent sein wird und erst ab Sommer als Chef.
Der Intendant und der künstlerische Leiter werfen sich die Bälle zu, scherzen, frotzeln – man hat den Eindruck, dass da zwei eigenständige Künstler gut miteinander harmonieren, und das ist für die zukünftige Zusammenarbeit sicher nicht schlecht.
„Ich freue mich, an diesen neuen Strand gekommen zu sein“, macht Latchinian deutlich, dass er in Hamburg ein neues Kapitel seines Lebens aufschlagen wird. Einerseits wörtlich, mit seinem Wechsel vom Rostocker Ostseestrand an den Hamburger Elbstrand. Und im übertragenen Sinn: Mit den Kammerspielen wird der Theatermacher, der in seinem Leben schon so viel erprobt hat, Provinz hier, Hauptstadt da, kleines Landestheater hier, riesiges Vier-Sparten-Unternehmen da, noch einmal in ganz neue Gewässer vordringen. Privattheater hat er bis heute jedenfalls keines gemacht.
„Ich möchte helfen, den 28-Stunden-Tag von Axel Schneider zumindest phasenweise zum 26-Stunden-Tag zu machen“, kündigt der neue Kammerspiele-Hausherr an, und das klingt gleichzeitig demütig und auf ironische Weise hintersinnig.