Hamburg. Die Gustav Mahler Vereinigung ernennt ihn zum Ehrentmitglied. Im Gespräch äußert Thielemann sich auch zum Klang in der Elbphilharmonie.

Christian Thielemann hatte seinen Kapellmeister-Kollegen Gustav Mahler direkt im Nacken, aus solidem Metall und dementsprechend unbeeindruckt von den Reden und den Interpretationsdeutungen, die vor seiner Nase stattfanden. Dass die Büste des Teilzeit-Hamburgers Mahler im KomponistenQuartier Teil der Kulisse war, als der hiesige Mahler-Fanclub den Dirigenten Thielemann zum Ehrenmitglied ernannte, war eine schöne erste Pointe. Die zweite, noch schönere: Als chronischer Mahler-Dirigent ist Thielemann nicht aktenkundig. Im Gegenteil.

Wagner satt, Strauss ebenso, Bruckner regelmäßig, gern auch mal italienische Oper, das alles ist hinlänglich bekannt und dokumentiert. Mit Bruckners Zweiter (und Mendelssohns Violinkonzert mit Frank Peter Zimmermann) stand Thielemann gestern mit seiner Sächsischen Staatskapelle aus Dresden im Großen Saal der Elbphilharmonie. Aber Mahler? Kaum Konzerte im Lebenslauf, nur eine CD-Einspielung, und die mit eher unzentralen Werken. Mahlerianismus im Vollbild sähe anders aus.

Würdigung nach Aufführung von Mahlers Dritter

Kann ja noch kommen. Dem Hamburger Mahler-Über-Experten Constantin Floros zufolge ist Thielemann schon jetzt auf direktem Weg zu Großem: „Alles, was Thielemann anpackt, wird authentisch. Er versteht sich immer als Diener am Werk“, sagte Floros. Und um sicherzugehen, dass Thielemann es nicht vergisst, betonte er die Freude, die ein möglichst baldiger Thielemann-Mahler in der Elbphilharmonie allen hier im Saal machen würde. Am Ende gab es eine Urkunde als Tätigkeitsansporn, dann Mahler-Rosen. Danach Getränke und Häppchen.

Die Meinung des Praktikers Thielemann zu diesem Abschnitt des KomponistenQuartiers ist bei seiner Premiere dort schneller erzählt als das komplexere Verhältnis zu Mahler: „Fantastisch, ganz toll.“ Thielemann ist nicht das erste Ehrenmitglied; er ist unter anderem in Gesellschaft der Mezzosopranistin Christa Ludwig, des Dirigenten Christoph von Dohnányi und des Choreografen John Neumeier. Die Entscheidung zur Würdigung fiel nach dem Besuch einer Aufführung von Mahlers Dritter im vergangenen Februar in Dresden. Und nun ist Thielemann womöglich der Ehren-Mahlerianer mit dem größten praktischen Nachholbedarf.

Kein Grund für den 59-Jährigen, an der Machbarkeit dieser späten Annäherung zu zweifeln. „Ich finde die Ehrenmitgliedschaft eine sehr gute Entscheidung, weil Sie mich damit ermuntern.“ Er war eben noch nicht ganz so weit. Also ist noch eine Rechnung offen? „Ja, aber eine gute.“

Und während im Nebenraum die Normal-Mahlerianer über Mahler plauderten, gestand der Ehren-Mahlerianer, dass er diese Musik „öfter mal hört, heimlich“ – mit jenem Tonfall, den bei anderen die Beichte hat, sie würden hin und wieder nachts mit einem großen Löffel beim Schokopudding im Kühlschrank vorbeischauen.

Mahlers Musik mache ihn „manchmal so unglücklich“

Bei einer Begegnung 2003 in Berlin – damals war er noch an der Deutschen Oper engagiert – hatte Thielemann über Mahler gesagt, dessen Musik mache ihn „manchmal so unglücklich“. „Das hat sich gebessert“, erklärte er jetzt, vor der Reproduktion eines Mahler-Gemäldes stehend. „Jetzt beschäftigt er mich, aber nicht negativ. Ich sehe das jetzt differenzierter. Ich nehme mit, was ich bei Wagner und Strauss gelernt habe, und wende es jetzt bei Mahler an.“

Die engere Auswahl des nächsten Sinfonie-Kandidaten jedoch erweist sich prompt als knifflig: „Mit der Drei habe ich begonnen, die möchte ich womöglich wiederholen, ich bin mit der noch nicht fertig. Bei der Acht habe ich gute Erfahrungen gemacht. Die muss einfach zusammengehalten werden. Vielleicht die Vier? Vor der Sechs habe ich etwas Angst.“ Bei seiner kurzen Dankesrede hatte er auch eine andere beliebte Sinfonie in der Warteschleife platziert: „Für die Neunte bin ich zu jung.“

Mahlers Ruf als unzimperlicher Orchester-Erzieher – gerade in den harten Jahren am Vorgängerhaus der Hamburger Staatsoper – ist legendär; Thielemann hat von ihm gelernt, „dass man ganz genau wissen muss, was man tut, und trotzdem spontan bleibt“. Für jüngere Dirigenten hatte er bei seiner Rede vor der Mahler-Büste einen interessanten Ratschlag parat: „Mach alle Fehler, die du machen kannst ... Die Jungen müssen da durch. Sie müssen auf die heiße Herdplatte gefasst haben.“

In der Elbphilharmonie „leicht und klein dirigiert“

Beim Thema Fehler liegt der Gedanke an das umstrittene Mahler-Konzert nah, neulich mit Jonas Kaufmann und dem „Lied von der Erde“ in der Elbphilharmonie. Konkret dazu wollte Thielemann nichts sagen, „ich war nicht dabei, da bin ich vorsichtig“.

Aber zu seinem eigenen Wagner-Konzert dort vor genau zwei Jahren sagte er doch noch etwas: „Ich weiß noch, wie leicht und klein ich hier dirigiert und das Orchester gebeten habe: noch leiser, noch leiser. Irgendwann ist man frustriert und sagt: Ich kann nicht mehr leiser spielen, es macht so auch keine Freude mehr. Aber: Ich habe auf meinem Platz das Orchester so gut gehört, wie ich es sonst eigentlich nie auf der Welt höre. Das ist ganz herrlich. Und: In manchen Sälen haben manche Stimmen Schwierigkeiten – dabei geht es aber nicht um die Qualität einer Stimme.“

Kein Gespräch über Mahler wäre komplett ohne einen Schlenker zu dessen oft falsch ausgelegtem Bonmot, dass Tradition doch nur Schlamperei sei. Da wurde Thielemann energisch grundsätzlich. „Das ist falsch. Tradition ist etwas ungeheuer Wichtiges. Klangkultur ist Tradition – und das ist ja wohl keine Schlamperei, ganz im Gegenteil.“

Und auch zu der gern Mahler zugeschriebenen These, Tradition sei die Weitergabe des Feuers und nicht das Bewahren der Asche, hatte Thielemann eine klare Meinung. „Gedankenlos ist, wenn einer einfach die Dinge weiternudelt. Das ist Schlamperei, und das wird Mahler gemeint haben.“