Hamburg. Die Kunsthalle zeigt mit „Kamikaze“ erstmals Werke des radikalen Belgiers Philippe Vandenberg. Sonderaktion für Abendblatt-Leser.

Es gibt Ausstellungen, die schön anzusehen sind. Die den Horizont erweitern, zum Nachdenken anregen. Und es gibt solche, die den Betrachter verstören. Für „Kamikaze“ von Philippe Vandenberg gilt beides. Die Hamburger Kunsthalle setzt mit ihrer aktuellen Herbstausstellung zum großen Schlag an, den in Belgien renommierten, 2009 gestorbenen Künstler, auch in Deutschland bekannt zu machen. „Denn wir finden, dass er eine wichtige Figur der Gegenwartskunst ist“, so Direktor Christoph Martin Vogtherr.

Schon das Plakat zur Ausstellung lässt erahnen: Da war ein Mensch am Werk, der mit sich rang, der am Zweifeln war. Vandenberg kniet auf einem Kissen wie in Gebetshaltung, der linke Arm tätowiert, die Jacke farbverschmiert. Es würde nicht verwundern, wenn irgendwo Blutspritzer zu sehen wären. Denn Vandenberg verwendete sein eigenes Blut, um Leinwände zu beschreiben oder damit zu tränken. So etwa in der Arbeit „Das Elend des Tages III“ (1996-1999). Auf dem Plakat ist über Kopf „Molenbeek“ zu lesen. Der Brüsseler „Problembezirk“ erlangte traurige Bekanntheit; Hier wohnten zeitweilig die Drahtzieher der islamistischen Anschläge von Paris und Brüssel in den Jahren 2015/16.

Als Junge von Hieronymus Bosch beeindruckt

In Molenbeek arbeitete der Künstler; sein Atelier existiert bis heute. Und obwohl Vandenberg diesen Terror nicht mehr miterlebte, spürte er Wut und Hass in der Gesellschaft. Ahnte, wie schnell Religiosität in Fanatismus umschlagen kann, Fürsorge in Übergriffigkeit und Inzest, Liebe in Qual und Hölle. Als Junge war er tief von der „Kreuztragung Christi“ von Hieronymus Bosch beeindruckt; dass der christliche Glaube mit derartiger Brutalität verbunden ist, beschäftigte ihn zeit seines Lebens.

Die Kreuzigung taucht als Motiv immer wieder in seinem Werk auf. Auf Bildern, die beim ersten Hinsehen bunt und unbeschwert wirken, – mal sind Schildkröten und Hunde zu sehen, mal tanzende Penisse – sind es stets die Schattenseiten der Existenz, die Vandenberg um- und angetrieben haben. Und die den Betrachter beunruhigt zurücklassen. Auf ihnen kämpft das Gute gegen das Böse. In den Swastika-Zyklen, die in ihrer grafischen Anordnung an Piet Mondrian erinnern, schleicht sich fast unbemerkt ein Hakenkreuz ins Bild. Um 45 Grad gekippt wird aus dem antiken Glücks- und Sonnensymbol ein Zeichen der Vernichtung.

120 Zeichnungen und Druckgrafiken

80 zum Teil großformatige Bilder sowie 120 Zeichnungen und Druckgrafiken aus den Jahren 1993 bis 2009 werden präsentiert. Der aus dem Japanischen stammende Begriff Kamikaze (auf Deutsch „göttlicher Wind“) steht für eine japanische Luftangriffstechnik im Zweiten Weltkrieg und auch für selbstschadende Handlungen. Was das bei Vandenberg bedeutet: Er wechselte nicht nur ständig zwischen den Stilen, malte abstrakt, aber auch figürlich, fertigte Porträts an und arbeitete mit Schrift, sondern er veränderte auch viele seiner Bilder, indem er Farbschichten mit einem Rakel abtrug – so beschäftigte sich Vandenberg mehr als zwölf Jahre lang mit dem „Gelöschten Bild“ (1989-2002) und forderte sich dazu auf, alles zu vergessen („Il me faut tout oublier“).

„Kamikaze war das kreative Prinzip des Künstlers: Er zerstörte, um Neues zu erschaffen“, sagt Kuratorin Brigitte Kölle. Das Spiel mit Worten und Buchstaben zieht sich durch die gesamte, dramaturgisch spannende Ausstellung. Manchmal blitzt ein morbider Humor auf: Auf einem in bunten Lettern geschriebenen Plakat ist zu lesen „(Auc) Un grand amour (ne) suffit“ – „(K)Eine große Liebe reicht (nicht).“ Oder die Besucher werden mit dem Aufruf „Kill Them All And Dance“ („Töte sie alle und tanze“) konfrontiert. Sind es die negativen Gedanken, immer wiederkehrende Dämonen, die der unter Depressionen leidende Künstler vernichten wollte?

Letztlich war es das Leben, an dem er zerbrach. Der Tod vieler Freunde ließ ihn vereinsamen, trotz der Liebe zu seinen drei Kindern Hélène, Guillaume und Mo, die bei der Ausstellungseröffnung in Hamburg dabei waren. Wegen Drogenmissbrauchs musste er mehrere Klinikaufenthalte hinter sich bringen. Dabei sei „nur die Kunst“ für ihn Heilung gewesen. Doch anscheinend reichte sie nicht aus. Mit 57 Jahren setzte Philippe Vandenberg seinem Leben ein Ende.

„Philippe Vandenberg. Kamikaze“ bis 24.2.2019, Hamburger Kunsthalle (U/S Hauptbahnhof), Glockengießerwall 5, Di-So 10.00-18.00, Eintritt 14,- (erm. 8,-).

Am 11.12. veranstaltet das Abendblatt ein Leser-Event: eine exklusive Entdeckungstour mit dem amerikanischen Künstler Jeff Turek, 25,- pro Person (inkl. Eintritt, Führung und Erfrischung). Buchbar über die Geschäftsstelle, Großer Burstah 18-32, Mo-Fr 9.00-19.00, Sa 10.00-16.00, T. 040/30 30 98 98, www.abendblatt.de/leserevents