Hamburg . Der „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich ist eine Ikone der Romantik. Nun verleiht die Kunsthalle das Werk.
Streng mustert Caspar David Friedrich seine Besucher. Auf seiner Stirn, genau zwischen den Brauen, hat sich eine steile Falte gebildet. Lockiger, rötlicher Backenbart, weiche geschwungene Lippen. So richtig zufrieden schaut er nicht drein, wie ihn Gerhard von Kügelgen um 1807 porträtiert hat.
Auch von seinem Malerfreund Georg Friedrich Kersting gibt es einen Caspar David Friedrich, 1811 an einer Staffelei sitzend, neben einem Farbentisch, der lustigerweise ein Tischbein zu viel hat. Da schaut er entspannter. Vielleicht ist er unausgeglichen, wenn er nicht malen kann. Vielleicht überfordert es ihn auch, dass hier in der Hamburger Kunsthalle kein Gemälde häufiger fotografiert, bestaunt, bewertet, besprochen und überhaupt angeschaut wird als seines, das nur wenige Meter entfernt die Stirnwand dominiert: „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, unsigniert, blattgoldschwer gerahmt, 74,8 x 94,8 Zentimeter, 200 Jahre alt.
Hamburgs berühmtestes Kunstwerk.
Es ist eine Ikone der deutschen Malerei, der Inbegriff der Romantik. Kaum ein anderes Werk ist erschöpfender zitiert oder – für Magazintitel, Plattencover, Bucheinbände – verfremdet worden, kaum eines gab der Kunstwissenschaft mehr Rätsel auf. Ein Mann, dessen Herz sich exakt in der Bildmitte befindet, steht auf einem Felsen, in der rechten Hand ein Wanderstock, der Mann blickt auf die milchig verhangene Landschaft, aus der vereinzelt Berggipfel herausragen. Wohin schaut er, was will er, woher kommt er, wo steht er, wer ist er? Der Betrachter sieht nur seinen Rücken.
Es gibt einen Roman von Thomas Bernhard, „Alte Meister“, in dem ein grantiger Wiener Kunstkritiker jeden zweiten Tag im Museum hockt, immer vor seinem Lieblingsgemälde, einem Tintoretto. Weil er sich dann fühlt „wie in einem Haus, in dem er schon sein Leben lang wohnt“. Wer einen ganzen Tag mit dem „Wanderer über dem Nebelmeer“ verbringt, kann dieses Gefühl verstehen. Und, noch besser eigentlich, es an anderen beobachten. Denn dieses Bild ist zweifellos mehr als der Spleen eines Einzelnen. Es löst etwas aus, ein Wiedererkennen vor allem, die Vertrautheit der Szenerie erfasst nahezu jeden Besucher, niemand ignoriert das Gemälde, jeder hält kurz inne, fast jeder fotografiert das Werk, das selbst die Reflexion des Sehens ist. Und fragt man am Ende des Tages den älteren Museumswärter nach seinem Lieblingsbild, zuckt auch der fast entschuldigend die Schultern, deutet auf den „Wanderer“, lächelt und sagt mit osteuropäischem Akzent: „No ja! Auch dies hier!“
Um kurz nach zehn Uhr morgens aber, kurz nach der Öffnung der Kunsthalle, herrscht noch Ruhe in dem fensterlosen Eckraum. Der freundliche Herr der Aufsicht hat kurz genickt, „Erste Besucherin! Freu mich!“, viel mehr wird er den Tag über nicht sprechen. Nur lächeln und immer wieder aufmunternd nicken.
Bild hängt ganz hinten
Je nachdem, welchen Weg man gewählt hat, ist man schon an Henry Moore und Giacometti vorbeigekommen, an Munch und Monet, an Degas und Corinth oder an Max Liebermann. Die Caspar David Friedrichs hängen ganz hinten, der „Wanderer“ ist das berühmteste, aber nicht das größte Bild im Raum. Das ist Friedrichs düsteres „Eismeer“, neu ist die Dauerleihgabe „Ruine Oybin“. Die dafür gewichenen „Nebelschwaden“ – einst während einer Ausstellung aus dem Frankfurter Schirn-Museum gestohlen und unter dubiosen Umständen in Hamburg wieder aufgetaucht – befinden sich im Depot. Und auch dort, wo der „Wanderer über dem Nebelmeer“ an diesem Wochenende zur Langen Nacht der Museen noch seine Pflicht als Publikumsmagnet tat, wird schon bald eine offensive Lücke klaffen. Ein halbes Jahr lang wird das Bild nach Berlin verliehen, an die Alte Nationalgalerie, als Ausgangspunkt und Schlüsselwerk einer Sonderausstellung unter dem Titel „Wanderlust“.
Grund genug, noch ein paar Stunden mit dem alten Kerl zu verbringen, solange er noch da ist.
Deutsche Romantik schwermütig
Still also ist es auf der schmalen Sitzbank vor ihm, nur die Klimaanlage summt – mit ein bisschen Fantasie – wie ein entferntes Meeresrauschen; ganz selten erinnert die Ahnung einer Polizeisirene daran, dass man sich mitten in der Stadt befindet. Die Raumtemperatur liegt bei 20 Grad, die Luftfeuchtigkeit bei etwas mehr als 50 Prozent, die Wandfarbe ist düster. Ein gedecktes, dunkles Taubenblaugrau. Bei den Italienern nebenan strahlt es hellgelb, die deutsche Romantik ist da schwermütiger unterwegs. Der Raum ist fensterlos, wetterlos ist er trotzdem nicht: Sonnenstrahlen und Eiseskälte, Dämmerung in allen Schattierungen, Frühschnee, der auf Tannenzweigen liegt, und, natürlich, die Nebelschlieren vor dem Wanderer. Alles auf den Gemälden.
Eine Schulklasse, vielleicht Jahrgangsstufe 10, gehört zu den ersten Besuchern, ein rothaariges Mädchen hält ein Kurzreferat über Caspar David Friedrich. Seine Mitschüler halten die Smartphones vor den Wanderer. „Hamwa jetzt Freizeit hier drinne?“ fragt ein Hochaufgeschossener im Wacken-Shirt, als das Mädchen fertig ist. „Nix Freizeit“, antwortet die Lehrerin knapp. „Weiter.“ Im Schneidersitz verteilt sich eine französische Jugendgruppe vor dem Wanderer und hört aufmerksam der Museumsführerin zu. Sie spricht fließend, fast akzentfrei, nur für das Wort „Sehnsucht“ fällt ihr keine französische Übersetzung ein. „La Sehnsucht“, sagt sie dann und lacht und drückt sich beide Hände vor das Herz.
Ein Kita-Grüppchen bleibt stehen, mit offenen Mündern schauen die Kinder zum Bild auf. „Ein grüner Mann! Ein Blindenstock! Der Mann ist über dem Himmel!“ – „Caspar David Friedrich heißt der Maler, er ist sehr berühmt“, erklärt die Erzieherin. „Gestorben?“, fragt ein kleiner Junge im Deutschland-Trikot. „Gestorben“, nickt sie. Der Junge seufzt. „Ich wusste es.“
Manchmal kommt minutenlang niemand.
Man wird ganz ruhig, wenn man Zeit mit den Gemälden verbringt, besonders inmitten der friedrichschen Naturversessenheit. Auch bei den Besuchern fällt auf, selbst bei den jungen: Niemand hetzt, alle schlendern. Überhaupt, dieses Schlendern: eine Gangart, der man sonst selten begegnet. In diesen Räumen gibt es keinen Grund, sich anders zu bewegen. Man hört, meist geflüstert, Dänisch, Polnisch, Holländisch, Sächsisch, einige langweilen sich, Museumsschlurf, auch ein Luxus. Vor dem „Wanderer über dem Nebelmeer“ verweilen alle. Keine Ausnahme, den ganzen Tag über nicht. Viele verlagern ihr Gewicht unbewusst auf ihr rechtes Bein, Doppelgänger des rastenden Wanderers.
Vier wichtige Friedrich-Sammlungen gibt es weltweit: in Berlin, Dresden, St. Petersburg und Hamburg; die „Kreidefelsen“ hängen in Winterthur. Die Hamburger Kunsthalle spielt eine wesentliche Rolle in der Caspar-David-Friedrich-Forschung. Schon Alfred Lichtwark, der erste Direktor, hatte wichtige Werke für sein Haus erworben. Doch selbst als einer seiner Nachfolger, Direktor Werner Hofmann, 1970 den „Wanderer über dem Nebelmeer“ für 600.000 Mark kaufen ließ – nach wie vor ist das Bild Eigentum der Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen und eine Dauerleihgabe –, war Caspar David Friedrich noch nicht endgültig wiederentdeckt. Einst hatte er gut von seiner Kunst leben können, nach seinem Tod geriet er in Vergessenheit. Sein Durchbruch kam später, dann allerdings heftig.
Besucher standen Schlange
Für Hofmanns erste große Friedrich-Ausstellung standen die Besucher 1974 bis um das Gebäude herum Schlange. Als Brigitte Macron, die Ehefrau des französischen Präsidenten, während des G-20-Gipfels in Hamburg war, wollte sie explizit wegen des „Wanderers“ die Kunsthalle besuchen. Und als der heutige Direktor, Christoph Martin Vogtherr, seine Stelle antrat, waren seine Kollegen in London, wo er zuvor die Wallace Collection leitete, eben deshalb beeindruckt. Die Hamburger Kunsthalle? War nicht allen sofort präsent. Der dort hängende „Wanderer über dem Nebelmeer“? Der unbedingt.
Schon eine ganze Weile steht eine Frau, sie könnte Japanerin sein, allein vor dem Bild. Immer wieder beugt sie sich vor, um Details zu betrachten, sehr nah geht sie mit ihrer dickrandigen, schwarzen Brille an das Bild, fast schon berührt die Nasenspitze das schützende Glas. „Aaaaaah!“, sagt sie und nickt zustimmend und direkt noch einmal: „Aaaaah!“, als sei damit alles Wesentliche gesagt. Abgestaubt werden die Gemälde einmal die Woche, nicht vom Reinigungspersonal, versteht sich, sondern von den Restauratoren.
Noch eine Gruppe Jugendliche, ohne Lehrerin diesmal. Teenager, fünf Mädchen und Jungen, sie bleiben stehen, stoßen sich an, kichern, boxen sich in die Oberarme, „ey, shhhh, Kuuunst!“ und verlassen den Raum. Eine Weile noch hört man ihre Stimmen. Vielleicht fünf Minuten später kommt einer der Jungen allein zurück. Er lächelt scheu, hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und stellt sich wieder vor das Bild. Schaut. Steht. Bestimmt eine Minute vergeht. Dann zückt er das Handy, macht ein schnelles Foto, guckt sich noch einmal kurz um und geht.
Eine Merchandisingmaschine
Wer den „Wanderer“ einen Tag lang beobachtet, kann schon verstehen, warum er das Bedürfnis hat, seinen Betrachtern den Rücken zuzukehren. Der „Wanderer über dem Nebelmeer“ ist ein Promi. Kunst-Celebrity. Durchfotografiert, dauerbestarrt, imitiert. Und wie sich das für Stars gehört: in echt dann kleiner als vermutet. Im Museumsshop gibt es „Wanderer“-Magneten für vier Euro, Postkarten für 1,20, einen „Wanderer“-Einkaufsbeutel, sogar Brillen-Etuis mit passendem Putztuch. 12,90 Euro im Set. Den Wert des Originals kann im Museum niemand schätzen. Caspar David Friedrich ist einer der teuersten Maler des Kunstmarkts. „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ ist eines seiner wichtigsten Werke, wahrscheinlich das entscheidende. Unbezahlbar. Und wohl auch deshalb: nicht versichert. Man muss das tatsächlich noch einmal hören, um es wirklich zu glauben: Das Bild ist nicht versichert. Die Prämie wäre nicht zu erbringen, im Notfall tritt die Staatshaftung ein.
Dass das unsignierte Bild ein echter Friedrich ist, hat die Forschung einigermaßen zweifelsfrei geklärt. Der Titel allerdings stammt nicht vom Maler selbst. Zu dessen Lebzeiten war es nicht üblich, seinen Bildern Titel zu geben, vermutlich hat das Werk erst in Hamburg, unter Kunsthallendirektor Hofmann, seinen Namen erhalten. Geschützt ist dieser Name nicht. Wenn der heutige Direktor wollte, könnte er es umbenennen. „Grüner Mann über dem Himmel“ zum Beispiel, „Blindenstock im Nebel“, so was.
Balance aus Pathos und Kontrolle
Acht Stunden hat das Museum an einem normalen Wochentag geöffnet. Die gesamte Zeit mit nur einem Bild, oder jedenfalls: vorrangig in nur einem Museumsraum zu verbringen wird dabei zur interessanten Erfahrung, einer Mischung aus People-Watching und Meditation. Das liegt auch an der Klarheit des Künstlers. Natürlich ist es ein pathetisches Bild, dazu extrem konstruiert. Aber vielleicht ist es gerade diese Balance aus Pathos und Kontrolle, die ihm eine solche Kraft verleiht.
Um 17.45 Uhr tönt das erste Mal der Gong, der die letzten Besucher zum Ausgang schicken soll, um zehn vor sechs gongt es noch einmal. Die Museumsaufsichten bleibt einem jetzt dicht auf den Fersen, sie wollen sichergehen, niemand soll zurückbleiben. Außer dem Wanderer, natürlich, und seinem strengen Schöpfer.
Caspar David Friedrich in seinem Porträt an der Seitenwand schaut noch immer ein wenig barsch. Mehr als 200 Jahre alt ist seine Stirnfalte inzwischen. Aber jetzt hat er Feierabend.